Seit den 2000er-Jahren boomen Apps wie Facebook und X (ehemals Twitter), Insta und BeReal, Youtube, Snapchat und TikTok – nahezu jede:r hat irgendwo ein Profil, stellt Posts, Bilder und Videos online und kommentiert die der anderen rege. Im Smartphone-Zeitalter durchdringen sie uns individuell und gesellschaftlich, beruflich und privat. Egal wo, und immer: jetzt. Wir nutzen Social Media für Kontakt und Information, soziale Teilhabe, Partner:innensuche, Konsum, zur Zerstreuung, Stimulation und nicht zuletzt, um nichts zu verpassen sowie zur Selbstbestätigung auf der Jagd nach Likes.
„BE.LIKE.ME. – Social Media und ich“
Dass uns diese veränderten Lebensgewohnheiten einerseits Chancen bieten, andererseits aber auch mental, körperlich und persönlichkeits-rechtlich viel abverlangen, ist das eine. Doch dazu können sie auch suchtartiges Verhalten fördern. Mit ihrer zweiten Ausstellung „BE.LIKE.ME. – Social Media und ich“ thematisiert die Stiftung Welt der Versuchungen ein Alltagsphänomen, das längst unser Leben, unsere Gesundheit, unser Miteinander beherrscht – und durchaus abhängig machen kann. Bis 15. November ist die Schau in Erfurt zu sehen begleitet von zahlreichen Veranstaltungen.
Warum brauchen wir Likes?
Welche menschlichen Bedürfnisse werden von den sozialen Netzwerken angesprochen, wo liegen Nutzen und Risiken? Warum brauchen wir Likes und warum können sie uns unter Druck setzen? Ebenso wie FOMO (Fear of Missing out / Angst etwas zu verpassen) bzw. Furcht vor Abweisung? Wie wirkt sich die Nutzung von sozialen Netzwerken auf unser Belohnungssystem aus: passiv im Kindesalter und aktiv als Teenager und als Erwachsener? Wo ist der Kipppunkt hin zu suchtartigem Verhalten? Wie kann ich mich wappnen oder Gewohnheiten durchbrechen? Fragen über Fragen, die die Ausstellung ins Fadenkreuz nimmt. Wir sprachen mit Susanne Rockweiler über BE.LIKE.ME. Die Chefkuratorin verrät uns im Interview unter anderem, warum Instagram der stylische, fotogene Gast bei einer Party wäre und was Social Media mit dem Film Matrix zu tun hat.
Susanne, wenn Social-Media-Apps menschliche Persönlichkeiten wären, wie würdest du Facebook, Insta und TikTok charakterisieren? Wer wäre der charmante Partygast und wer die Dramaqueen?
Oh, da muss ich nachdenken und vorausschicken, dass ich auf die Schnelle nur holzschnittartige Bilder skizzieren kann. Die Menschen auf den Sozialen Netzwerken sind nicht nur je Plattform vielfältig.
Plattform vielfältig. Vielleicht wäre Facebook am ehesten die erfahrene, gesellige Person, die immer über das Neueste aus der Familie und alten Freundeskreisen informiert ist. Sie ist ein Erzähler oder eine Erzählerin, die an Geschichten aus der Vergangenheit anknüpft, an Geburtstage erinnert und ein bisschen nostalgisch ist. Dazu gehört das Posten von Fotografien aus Fotoalben und das Schreiben von längeren Nachrichten. Auf Partys wäre Facebook der- oder diejenige, die gerne ein Glas Wein trinkt und tiefere Gespräche den Smalltalks vorzieht.
Instagram wäre die stylische, fotogene Person, die auf ihr Äußeres achtet und eher extrovertiert wirkt. Ihr Smartphone ist ihr Begleiter. Sie würde Selfies mit jedem machen und die besten Momente der Party festhalten, dabei Momente auch inszenieren auf denen alle fröhlich und vergnügt aussehen, während sie gleichzeitig auf ihr Image achtet, in die Kamera zumindest ein Herz mit den Händen formt und vielleicht ihr Gesicht durch das Nutzen von Filter optimiert. Sie wäre der Partygast, der mit seiner Leichtigkeit punktet, nicht unbedingt das tiefergehende Gespräch sucht, daran aber durchaus teilnimmt, wenn die Situation passt.
TikTok wäre eine junge Person, die gerne etwas Neues ausprobiert und andere zum Tanzen animiert. Sie bringt die neuesten Moves zur Party, filmt sie und stellt sie gleich online. Dadurch würde TikTok zum It-Gespräch der Party werden mit seinen ungefilterten Inhalten und der Chance, dort zum Star zu werden – zumindest für einen Tag. Ob sie lange auf der Party bliebe, läge sicherlich am Unterhaltungswert der anderen Gäste. Oder sie zöge sich mit dem Smartphone in die Online-Welt zurück, um Partys anderer Art zu feiern.
Die Ausstellung zeigt ja die Schattenseiten der sozialen Medien. Hast du dich selbst schon mal beim Doomscrolling (das exzessive Konsumieren von Nachrichten in den sozialen Medien) ertappt? Oder beim Posten eines #foodpics, das doch nicht ganz so instagrammable war und wie denkst Du jetzt darüber?
Naja. Die sozialen Medien sind per se weder gut noch schlecht. Wir als Nutzer:innen merken, allerdings dass sie etwas mit uns machen und fragen, was wir Menschen in den Sozialen Netzwerken eigentlich suchen und finden, wie der Zugang zu Informationen, weltweite Kommunikation und digitale Gemeinschaften, die wir vielleicht vor Ort nicht finden. Gleichzeitig verschlingen sie viel Zeit und fordern uns mental und körperlich heraus mit Features, die die Selbstkontrolle erschweren. Mit der interaktiven und gleichzeitig sinnlichen Arbeit „YOU:R:CODE“ vom ZKM in Karlsruhe wird der Algorithmus und unser digitaler Fußabdruck verständlich, der mit jedem Besuch auf den Apps passgenauer wird.
Es gibt immer mehr Apps, die unseren Alltag durchdringen und Auswirkungen auf unser soziales Miteinander haben – im Kleinen als Single oder Familie sowie im Großen als Gesellschaft. Die Serie Family Portraits von Maria Mavropoulou setzt das mit Schwarz-Weiß-Fotografien von Alltagssituationen ins Bild: ein Geburtstagsabendessen, ein Sonntagnachmittag im Bett, ein Abend mit Freund:innen. Statt Menschen sehen wir leuchtende Bildschirme von Laptops, Smartphones, Apple-Watch, Fernseher, Tabletts. Da schließt sich die Frage an: Sind wir nicht gemeinsam einsam? Und auch: Was können wir dagegen tun.
Beim Doomscrollen erwische ich mich eher weniger. Aber ich verbringe viel Zeit mit Messenger Apps, da gehen Nachrichten schnell hin und her und ich spüre einen Druck, möglichst schnell zu antworten. In Vorbereitung zu BE.LIKE ME. habe ich mir SnapChat, BeReal und TikTok genauer angeschaut und meine Kinder befragt, um zu verstehen. In der Ausstellung zoomen wir uns in TikTok und Instagram hinein mit zwei Multimedia-Installationen: Erfurt Unfiltered von Marc Lee ist ein TikTok-Raum mit übergroßen Paneelen, der die Sogwirkung und Videoflut körperlich macht. #Sugar-Macht von Faina Yunusova ist ein Instagram-Zimmer welches, das Süße thematisiert ebenso wie die Macht. Wer hat sie: die Influencer:innen mit ihren Posts oder die Follower:innen mit ihren Likes? Das Zimmer ist übrigens in den gleichen Magenta-Lila-Tönen wie das Trikot der Fußball-Nationalmannschaft bei der EM. Der Algorithmus mag diese Farben besonders.
Was wäre dein persönlicher Horror: Einen Tag ohne WLAN zu überleben oder einen Post zu sehen, den du nicht liken könntest, weil dein Akku leer ist?
Lustig, ich würde mich in den Liegestuhl legen, träumen, und hoffen, dass morgen der Akku geladen ist und das WLAN funktioniert. Das ist übrigens auch eine Arbeit in unserer Ausstellung von Dries Depoorter. Sie heißt „Recharge“: Das Aufladen des Smartphones funktioniert nur mit geschlossenen Augen. Eine Kamera, die das Gesicht erfasst, ist mit der Ladebox gekoppelt.
Die Ausstellung thematisieren unter anderem die Jagd nach Likes. Denkst du, wir könnten irgendwann so weit kommen, dass wir Likes als Währung für den Supermarkt verwenden? Wie viele Likes für eine Packung Chips?
Das ist sehr spekulativ. Ja, vielleicht wäre das möglich. Aber es bliebe dann sicher eher den Influencer:innen vorbehalten: Sie machen Werbung für eine Supermarktkette und können mit den Likes dafür dann dort einkaufen. Die meisten würden dennoch eher Geld bevorzugen. Supermärkte wüssten zudem, was die Einlösenden gern mögen – sie bezahlen also auch mit ihren Daten. Und was würde das eigentlich für die Daten derjenigen bedeuten, die gelikt haben?
Gut ist, dass im Februar dieses Jahres europaweit ein Gesetz über digitale Dienste verabschiedet wurde. Sein Ziel ist uns Nutzer:innen, darunter vor allem junge Menschen, besser vor exzessivem bis suchtartigem Konsum zu schützen, durch beispielsweise Teen-Accounts auf sozialen Plattformen mit zeitlichem Limit. Ferner wurde TikTok Lite verboten, geplant als eine TikTok-Version des chinesischen Konzerns ByteDance, die besonders langes Online-Sein belohnt hätte. Gut, dass das vom Tisch ist.
Stell Dir vor, wir hätten alle nur ein „Social Media-Leben“ – was wäre deine Top-Empfehlung: Ein epischer Katzenvideo-Account oder doch eher Philosophie-Memes für den täglichen Denkanstoß?
Gäbe es nur diese zwei Möglichkeiten: definitiv das Philosophie-Meme.
In der Ausstellung wird auch über FOMO gesprochen. Gibt es ein digitales Event oder einen Hype, bei dem du selbst mal FOMO hattest? Vielleicht doch der legendäre #IceBucketChallenge-Moment?
FOMO (Fear of Missing Out), die Angst etwas zu verpassen, ist ein Phänomen, das viele Menschen betrifft, besonders im digitalen Zeitalter. Wir sind soziale Wesen und gehören gerne einer Gemeinschaft an. Für einen guten Zweck, zum Beispiel gegen alle Formen von Krebs, würde ich bei einer #IceBucket-Challenge mitmachen und mich freuen, ginge sie weltweit viral. Damals, ich glaube es war 2014, gingen die Bilder und Filmchen via YouTube um die Welt von Menschen, die sich kaltes Wasser über den Kopf schütteten, um auf die Muskelkrankheit ALS aufmerksam zu machen und Gelder für die Erforschung und Bekämpfung zu sammeln. Sie nominierten andere, es ihnen gleichzutun oder zu spenden. Da kann natürlich ein sozialer Druck entstehen, ein Gefühl, mitmachen zu müssen, um Teil der globalen Bewegung zu sein. Bei prominenten Persönlichkeiten ist der Druck sicherlich höher als bei uns Normalos, zumindest spüre ich ihn nicht in der digitalen Welt, allenfalls etwas in der Realen.
Social Media ist ja bekanntlich ein bisschen wie die „Matrix“ – was glaubst du, ist der „rote Pillen“-Moment, der uns hilft, aus der Abhängigkeit auszubrechen?
Interessant, dass dir für Social Media die Metapher aus dem Film „Matrix“ mit der „roten Pille“ einfällt. Sie steht für das Aufwachen aus einer Illusion und für Wahrheit. Im Kontext von Social Media könnte der „rote Pillen“-Moment der Punkt sein, an dem uns bewusst wird, wie stark diese Plattformen unser Verhalten und unser Weltbild beeinflussen. Das heißt, es geht um Aufklärung. Dass wir verstehen, dass die Social Media-Plattformen so gestaltet sind, dass sie unsere Aufmerksamkeit möglichst lange binden und Inhalte uns möglichst emotionalisieren. Wissen ist ein guter Anfang, und das ist auch Ziel unserer Ausstellung, um bewusst und kritisch mit unserer Online-Präsenz umzugehen.
Begleitprogramm:
17. Oktober (18 Uhr) – Vortrag: Online stets verfügbar – Unverfügbarkeit und Digitalisierung, Anmeldung auf Homepage
24. Oktober (18 Uhr) – Gesprächsvortrag: Chatten, posten, liken: Wie Netzkommunikation unsere Welt verändert
6. November (18 Uhr) – MDR-Podiumsdiskussion: Social Media und wir, Anmeldung auf Homepage
Hard Facts:
- BE.LIKE.ME. in Erfurt: bis 15. November
- Öffnungszeiten: tägl. 11 bis 18 Uhr, Do 11 bis 20 Uhr, Di geschlossen
- Ausstellungsort: Anger 28/29, Eingang Lachsgasse
- Öffentliche Führungen jeden Sonntag um 15 Uhr
- Mehr: www.welt-der-versuchungen.de
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