Eine deutsch-jüdische Familie, ein Vater, der überlebte, und die Spuren einer verlorenen Identität – In seinem Erstlingswerk „Spur und Abweg“ stellt Kurt Tallert sich der Verfolgungsgeschichte seiner Familie. Das Besondere an seinem Schicksal und seiner Perspektive auf die deutsche Geschichte: Kurt Tallert ist heute 37 Jahre alt, und doch wurde sein Vater als junger Mann noch von den Nazis als sogenannter Halbjude verfolgt. Bei der Geburt seines Sohnes ist Harry Tallert 58 Jahre alt. Und stirbt zwölf Jahre später.
Kurt Tallert in Erfurt
Was bleibt sind Erinnerungen, Notizen, Briefe, Fotos. Spuren eines beschädigten Lebens. Auf diesen Spuren wandelt Kurt Tallert. Sie führen ihn ins Bad Honnef seiner Kindheit, in zahllosen Regionalzügen quer durch die Republik und schließlich zu seiner jüdischen Urgroßmutter Berta – und zu der Frage: Was hat das eigentlich alles mit mir zu tun? Heute Abend liest Kurt Tallert ab 19 Uhr auf der Freifläche von Radio F.R.E.I. in Erfurt. Wir sprachen vorab mit dem Autor, der vielen wahrscheinlich besser unter dem Künstlernamen „Retrogott“ bekannt ist. Denn als Rapper, DJ und Produzent prägt er seit mehr als zwanzig Jahren die deutsche Hip-Hop Szene.
„Spur und Abweg“ ist Dein schriftstellerisches Debüt. Wie hat sich der Übergang vom Musiker und Rapper zum Schriftsteller für Dich angefühlt?
Ich habe das nicht als Übergang vom einen zum anderen empfunden. Es handelt sich bei Musik und Literatur einfach um unterschiedliche Kunstformen, die beide viel Raum in meinem Leben einnehmen. Trotzdem gibt es in meiner Vorgehensweise Überschneidungen: in der Musik sample ich, greife also Kunst von anderen Leuten auf, mache daraus etwas Neues, ziehe Verbindungen, schaffe Gleichzeitigkeit von eigentlich zeitlich voneinander getrennten Dingen. In der Literatur nennt man das dann Zitat oder Intertextualität. Man könnte also die Analogie machen, dass ich den schriftlichen Nachlass meines Vaters gesamplet und auf dieser Grundlage mein eigenes Zeitdokument gemacht habe.
Du setzt Dich in Deinem Buch intensiv mit der Geschichte Deiner Familie auseinander. Was hat Dich dazu bewegt, dieses Thema in Buchform zu bearbeiten?
Die Texte meines Vaters ließen dessen Willen durchscheinen, seinen Erlebnissen schriftlich Ausdruck zu verleihen. Als Mensch, der Bücher geliebt, in ihnen gelebt und aus ihnen viel Kraft und Inspiration gezogen hat, lebte mir mein Vater, der ja auch Journalist und Buchautor war, einen intensiven Umgang mit Literatur vor. Die Prosa hat mir darüber hinaus einen deutlich größeren Raum gegeben, um über die äußerst komplexen Themen zu sprechen, die mit seiner Verfolgungsgeschichte im Zusammenhang stehen.
Dann kommt noch der Aspekt des geschriebenen Worts als Form der Erinnerung hinzu. Auch bei meinen Recherchen, etwa zu meiner Urgroßmutter Berta Tallert über das Yad Vashem, die ja erst einmal persönlich und nicht literarisch motiviert waren, merkte ich, welche Bedeutung dem zukommt, wenn die Namen der Menschen und das, was ihnen damals angetan wurde, geschrieben steht. Das geschriebene Wort schien mir also auch als ein unverzichtbares Mittel der Erinnerung.
Dein Vater wurde noch von den Nazis verfolgt, obwohl Du erst 1986 geboren wurdest. Da fehlt quasi eine Generation dazwischen. Was meinst du, wie hat dich diese Generationenüberschneidung geprägt?
Diese Diskrepanz ist sicherlich eines der zentralen Motive des Buchs. Ich empfand mich dadurch immer ein wenig als einen Anachronismus. Das führte natürlich zu großen Unterschieden zwischen meinen Altersgenossen und mir im Zugang zur Thematik. Es schuf ein Gefühl der Fremdheit, nicht nur wegen des zeitlichen Abstands, den meine Mitmenschen zu all dem hatten, sondern auch, weil ich in einer Dominanzgesellschaft aufgewachsen bin, in der jüdisches Leben kaum oder gar nicht stattgefunden hat und in der für meinen Vater eigentlich alle Brücken zur jüdischen Identität und zu Menschen, die keinen Täter- oder Mitläuferhintergrund hatten, niedergerissen waren. Das schaffte ein Gefühl der Isolation. Gegenüber der deutschen Gesellschaft und Gegenwart und gegenüber jeglicher Identität nahm ich durch diese Prägung eine äußerst kritische, vielleicht auch ängstliche oder gar despektierliche Haltung ein.
In deinem Buch geht es um die Grausamkeiten des NS-Regimes und den Auswirkungen auf nachfolgende Generationen. Du warst 12, als dein Vater starb. Wie manifestierten sich diese Grausamkeiten?
Ich habe mit sechs Jahren erfahren, was er erlebt hat, und versuche seit diesem Tag, mir darüber Klarheit zu verschaffen, was das für ihn bedeutete und was ich davon in mir trage. Diese Erfahrungen waren ein Teil von ihm. Ich glaube, auf meinem Vater lastete das Bewusstsein von sehr viel Verlust, von den Toten in seiner Familie sowie die Erinnerung an selbst erfahrene Demütigungen, an Folter. All dies überlebt zu haben, bedeutete für ihn nicht nur Glück, sondern bis ans Ende seiner Tage einen täglichen Kampf gegen den Hass seiner Peiniger. Es bedeutete eine große Anstrengung, „trotzdem Ja zum Leben zu sagen“, wie es der Psychiater und Auschwitz-Überlebende Viktor Frankl formuliert hat. Meinem Vater war immer sehr wichtig, nicht zurück zu hassen und die Würde des Menschen zu verteidigen.
Das Buch ist sehr persönlich und intim. War es für Dich eine Herausforderung, solche privaten und Familienerinnerungen öffentlich zu machen?
Für mich war es von großer Bedeutung, darüber zu einer Öffentlichkeit zu sprechen, das Ganze zu externalisieren, wobei ich nicht davon ausgehe, dass man damit zu einem erfolgreichen Abschluss kommen kann. Eine Herausforderung stellt diese Offenheit im Bereich des Künstlerischen für mich aber auch insoweit dar, als dass ich immer die Herausforderung mitdenke, die das für das Publikum darstellt. Ich glaube, meinem Vater und vielen Überlebenden hat es seelisch geschadet, in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf viel Unverständnis und Desinteresse an ihren Geschichten zu stoßen.
Inwiefern hat sich Deine Sicht auf Deinen Vater und seine traumatische Vergangenheit durch das Schreiben des Buches verändert?
Ich sehe Kunst immer auch als eine Kommunikationsform. Daher habe ich mit dem Buch einen Prozess der intersubjektiven Überprüfung angestoßen, einen Aushandlungsprozess, in dem ich nicht mehr allein bin mit der Geschichte meines Vaters. Ich stoße auf viel Interesse und Anerkennung, lerne teils Menschen kennen, die ähnliche Geschichten haben, was mir viel bedeutet. Meine Sicht auf meinen Vater hat sich nicht grundlegend verändert, sehr wohl aber intensiviert.
Der Respekt und die Liebe, die ich für diesen Menschen empfinde, haben sich in der Auseinandersetzung mit seinen Gedanken und Erlebnissen vervielfacht. Verändert hat sich mein Fokus auf seine Familie, ich habe wieder mehr Kontakt zu einigen Verwandten aus seiner Familie. Eine Großcousine, deren Vater damals nach Brasilien ausgewandert ist, kontaktierte ich durch das Buch zum ersten Mal. Es sind also auch wieder Brücken in der Gegenwart geschlagen worden.
Findest du, dein Buch berührt ein Thema, das nie vergessen werden darf?
Es steht mir nicht zu, normative Aussagen darüber zu treffen. Oder anders gesagt: es wäre mir zu naiv, denn ich sehe ja, wie umkämpft, wie fragil und wie wenig selbstverständlich die Erinnerung an die deutschen Verbrechen im Holocaust ist. Wenn ich aber dazu beitrage, dass Menschen dafür sensibilisiert werden, dass die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus, dass die Shoah uns immer noch etwas angeht, dass der dadurch erlittene Verlust noch immer nachwirkt, dann sehe ich das dankbar als meinen kleinen Beitrag an. Für mich als Nachfahre eines antisemitisch Verfolgten ist es eben ein Thema, dass ich nicht vergessen kann und wenn allein das Anerkennung fände, wäre schon oft etwas gewonnen.
Auch der heutige Antisemitismus steht in Zusammenhang damit. Darüber hinaus glaube ich, dass viele Deutsche sich ihren biographischen Bezug zu diesem Thema schlichtweg nicht eingestehen oder zu etwas völlig Abwegigem verklären. Neben dem ganz persönlichen Anliegen, meiner Vorfahren zu gedenken und ihr Judentum nicht zu verleugnen, bewegt mich auch die Frage, ob wir Deutschen es denn wirklich verstanden haben, in wie weit der Nationalsozialismus der ganzen Welt und nicht nur den Verfolgten geschadet hat. Es wäre keine unredliche Vermischung von Opfern und Tätern, wenn sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft eingestünde, dass die völkische, essenzialistische Denke der Nazis schädlich für ganz Deutschland und die Welt war.
Was macht das mit dir, wenn du mit dem Buch im Rücken die aktuellen Entwicklungen in Thüringen und Ostdeutschland siehst?
Völkischer Rhetorik, aggressivem Gebaren, anti-demokratischer Hetze gegen Journalisten und bestimmte Teile der Gesellschaft im politischen Mainstream zu begegnen, all das macht mir Angst. Im besten Falle schärft es aber auch meine Sinne dafür, dass Erinnerungskultur nicht nur dem Andenken und der Mahnung dient, sondern dass sie zu einem Raum erweitert werden muss, in dem wir entschieden allen Diskrimierungsformen und jeder Gewalt entgegentreten.
Die regelmäßige Schändung von Gedenkstätten, die rechtsradikale Gewalt gegen die Teilnehmenden des CSD, die pauschale Hetze gegen Muslime und gegen Geflüchtete, der Antisemitismus, ob von links, von rechts oder von islamistischer Seite, was zu konkreter Gewalt gegen Juden führt, all dem müssen wir entschieden entgegentreten, wo immer es uns begegnet und wir müssen dies gleichzeitig tun. Es tut weh, in der Bemühung um pietätvolles Gedenken auch noch einen politischen Kampf führen zu müssen. Man geht ja nicht auf den Friedhof, um zu demonstrieren, aber diese Dinge vermischen sich gerade.
Was erhoffst Du Dir, dass die Leser aus „Spur und Abweg“ mitnehmen? Gibt es eine bestimmte Botschaft, die Dir besonders am Herzen liegt?
Es ist schwer, das auf knappem Raum zu sagen. Ein Kernanliegen ist, die Verfolgten, die Ermordeten, die Überlebenden und ihre Nachfahren nicht allein zu lassen mit der Entwürdigung, mit der Vernichtung, der sie zum Opfer fielen, sondern sie als Menschen zu begreifen. Mich führte die Spurensuche nach meinem Vater auch zu seinen nächsten Verwandten. Für mich persönlich war es von Bedeutung, ihre Menschlichkeit zu betonen, ohne ihr Judentum zu verleugnen.
Es ist meine persönliche Überzeugung, dass sich in unserem Respekt vor den Toten auch unsere Wertschätzung des Lebens ausdrückt. Ein zweiter zentraler Punkt des Buches ist, dass das Abwegige, in welches die Spuren meines Vaters führen, noch immer da ist, dass wir uns noch immer dorthin verirren können, wenn wir den Respekt füreinander und schließlich vor uns selbst verlieren.
Du bist ab Oktober auch wieder auf Tour. Dann wechselt sich Lesung und Konzert ab. Arbeit im Weltraum und Spur und Abwege. Kannst du gut switchen? Wie ist das für dich?
Tatsächlich habe ich bemerkt, dass ich mich bei Konzerten am Folgetag einer Lesung besonders stark konzentrieren muss. Beim Rappen muss man sich ja auch einfach enorm viel Text merken und ich habe den Anspruch, immer auch mal ganz neue Sachen zu performen und auf Playback oder Backups zu verzichten. Bei den Lesungen performe ich aber oft auch einige Songs, die sich thematisch mit dem Buch überschneiden, somit gibt es keine strenge Trennung. Es sind aber doch unterschiedliche Arten von Veranstaltungen. Da ich aber in beiden Kunstformen ein hohes Maß an Selbsttreue anstrebe, glaube ich, fällt mir der Wechsel nicht allzu schwer, weder beim einen noch beim anderen verstelle ich mich.
Manifestiert sich die Recherche zu deinem Vater und das Buch auch in deiner Musik?
Ja, die Songs, die ich bei Lesungen bringe, sind alle während der Arbeit am Buch entstanden. Das sind meistens „Wider das Vergessen“, „Andenken“ und „in Umlauf“. Letzterer Song ist zum Beispiel entstanden, als ich die Wiedergutmachungsakte meines Großvaters las, in der er Gegenstände auflistete, die er im Zuge der „Zwangsarisierung jüdischen Eigentums“ aus wirtschaftlicher Not heraus verkaufen musste.
Gleichzeitig fanden sich in der Akte teils sehr zynische ärztliche Gutachten, die meinem Großvater den seelischen Schaden durch die Verfolgung regelrecht aberkannten. Da fragte ich mich, was von den verkauften Gegenständen meines Opas einerseits und was von den alten Ideen der Nazis heute noch so alles in Umlauf sein könnte. Im Song spiele ich auch an einer Stelle auf die Thüringen-Halle an, eine Mehrzweckhalle, die auf dem ehemaligen Gelände eines jüdischen Friedhofs steht.
Hard Facts:
- Wann: 12. September | Start: 19 Uhr |
- Wo: Freifläche von Radio F.R.E.I. | Gotthardtstraße 21