Till Lindemann, der Frontmann von Rammstein, wird kontrovers diskutiert. Nicht nur aufgrund seiner Kunst, insbesondere aufgrund von Vorwürfen, die in den letzten Jahren gegen ihn erhoben wurden. Es gab Anschuldigungen, dass er bei Partys und Veranstaltungen unangemessenes Verhalten gegenüber Frauen an den Tag gelegt habe.
Till Lindemann Konzert in Erfurt kritisiert
Diese Vorwürfe lösten eine intensive öffentliche Debatte über Themen wie Machtmissbrauch, Einvernehmlichkeit und die Verantwortung von Künstlern aus. Lindemann und sein Management haben die Anschuldigungen bestritten, was die Meinungen spaltet. Zusätzlich polarisiert er mit provokanten Texten und Bühnenshows, die oft kontroverse gesellschaftliche Themen wie Gewalt und Sexualität aufgreifen.
Gespräch Music Women* Thüringen
Am 4. Juli kommt Till Lindemann mit seiner Solo-Tour nach Erfurt und tritt beim openERFURT auf. Wir haben das zum Anlass genommen, mit Anna-Lena Öhmann von Music Women* Thüringen und Susann Hommel von Music Women* Sachsen zu sprechen. Das Netzwerk fördert Frauen und marginalisierte Geschlechtsidentitäten in der Musikbranche in Thüringen, um mehr Geschlechtergerechtigkeit zu schaffen. Sie organisieren Workshops, Konzerte und Netzwerkevents, um Talente sichtbarer zu machen und den Austausch zu stärken. Zudem sensibilisieren sie für strukturelle Ungleichheiten und unterstützen Frauen beim Zugang zu professionellen Netzwerken.
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Wie bewertet ihr es, dass Till Lindemann trotz der Vorwürfe weiterhin große Bühnen bespielt und nun auch in Erfurt auftritt?
Aus unserer Sicht ist vor dem Hintergrund der Vorwürfe sehr kritisch zu bewerten, dass Till Lindemann weiterhin auf großen Bühnen auftritt. Zwischen Menschen, die auf so großen Bühnen stehen, und deren Fans entsteht immer ein gewisses Machtgefälle und damit geht aufseiten der Künstler:innen eine Verantwortung einher, diese nicht auszunutzen. Das Verfahren wurde zwar eingestellt, doch es gab dann keine weitere ernsthafte Auseinandersetzung/Entschuldigung oder konkrete Pläne, wie ein solches Verhalten in Zukunft nicht mehr geschieht.
Welche Verantwortung tragen Veranstaltende und Städte, wenn sie solchen Künstlern Plattformen bieten?
Veranstalter:innen und Städte tragen bei allen Veranstaltungen die Verantwortung, dass die Gäste sicher teilnehmen können, inklusive An- und Abreise. Wenn Vorwürfe im Raum stehen, wie bei Till Lindemann, haben die Veranstalter:innen aus unserer Perspektive eine besondere Verantwortung, bei der Veranstaltung Safer Spaces zu schaffen.
Es wäre wünschenswert, dass Veranstalter:innen die Künstler:innen dazu verpflichten, einen Code of Conduct zu unterschreiben, der zusichert, dass alle Beteiligten respektvoll und im Konsens miteinander umgehen, alle darauf achten, dass die Veranstaltung ein sicherer Raum ist und geregelt ist, welche Konsequenzen es gibt, wenn einzelne dagegen verstoßen. Dies könnte auch rechtsverbindlich sein, doch das ist ein sehr komplexer Prozess!
Welche Signalwirkung hat es für die Musikszene, dass trotz schwerwiegender Vorwürfe gegen Künstler:innen weiterhin Festivals und Konzerte mit ihm organisiert werden?
Dies hat zur Folge, dass ein Machtungleichgewicht zu Fans und Künstler:innen normalisiert wird. Der ganze Betrieb verdient weiter Geld durch umstrittene Künstler:innen und solange dies gewährleistet ist, entscheidet sich die Mehrheit leider für den Profit. So können möglicherweise auch Vorwürfe gegen andere Künstler:innen oder gesellschaftliche Fälle von sexualisierter Gewalt verharmlost werden. Damit werden Betroffene nicht ernst genommen und im Stich gelassen.
Welche Rolle spielen patriarchale Strukturen in der Musikwelt, wenn es um Machtmissbrauch und den Umgang mit Vorwürfen geht?
Die Musikbranche und ihre Strukturen sind patriarchal geprägt. So ist Machtmissbrauch von allen erlernt und dem System inhärent, “das gehört halt dazu”. Daher werden Strukturen erst nach und nach in Frage gestellt und es entwickeln sich erst seit wenigen Jahren Awarenesskonzepte und Möglichkeiten diese Strukturen zu verändern. Der Umgang mit Machtmissbrauch ist in jedem Fall schmerzhaft, weil die Anerkennung und Veränderung davon für einzelne auch einen Machtverlust bedeutet.
Sichere und wirksame Strukturen schaffen, die vor Machtmissbrauch schützen und Geschehnisse aufklären und verändern, ist eine langfristige Aufgabe, die die Mitarbeit von allen erfordert, v.a. auch von Personen in Entscheidungspositionen.
Können solche Vorfälle wie die Vorwürfe gegen Lindemann eine stärkere Vernetzung und Unterstützung von Frauen* in der Musikszene bewirken?
Wenn Machtmissbrauch bekannt werden, führt dies meist zu einer Vernetzung von betroffenen Personen – in der Musikszene wie auch in anderen Bereichen. Dies haben wir bei jeder neuen #metoo-Welle der letzten Jahre erlebt.
Die Vernetzung ist für Betroffene hilfreich, da sie dann weniger allein sind und Erlebtes oft besser verarbeiten können. Doch echten Schutz, im Sinne von einem Kulturwandel, sodass Gewalt und Machtmissbrauch gesellschaftlich geächtet, strukturell und juristisch verurteilt werden und Veranstaltungen sicher und gewaltfrei stattfinden können, hat bisher noch keine der #metoo-Wellen ausgelöst.
Das Bewusstsein ist gestiegen und es wird viel mehr Awarenessarbeit gemacht – die ist auch wichtig und richtig, und doch sind wir noch am Anfang. Denn leider müssen wir auch feststellen, dass ein Zutagetreten solcher Vorwürfe wie gegen Till Lindemann und Rammstein und das Sichtbar werden der Betroffenen mit einem sogenannten „Backlash“ einhergehen. Das heißt, dass mit wachsender Unterstützung für Betroffene gleichzeitig auch eine massive Gegenbewegung wächst, die geprägt ist von Misogynie.
Wie sollte die Kunst eines Künstlers, der mit solchen Vorwürfen konfrontiert ist, von der Öffentlichkeit bewertet werden? Kann oder sollte sie getrennt von seiner Person betrachtet werden?
Zu dieser Frage gibt es unterschiedliche Perspektiven, doch letztlich hängen Kunst und Künstler zusammen und je nach Inhalt lassen sich mehr oder weniger Parallelen zum Verhalten ziehen oder nicht. Gerade in der Popkultur ist das Werk traditionell sehr eng mit dem Urheber oder der Urheberin verbunden.
Welche gesellschaftliche Verantwortung trägt ein Künstler wie Lindemann, dessen Texte und Auftritte häufig provokativ und grenzüberschreitend sind, in einer Zeit der Sensibilisierung für sexualisierte Gewalt?
Allgemein tragen Menschen, die auf Bühnen stehen oder in Leitungspositionen arbeiten, eine Verantwortung gegenüber ihren Fans oder Mitarbeitenden. Diese Verantwortung wird jedoch von jeder Person unterschiedlich eingeschätzt und genutzt. So tragen Künstler:innen aus unserer Perspektive heute in Bezug auf Sensibilisierung für Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt natürlich eine Verantwortung – und zwar mindestens soviel, diese nicht selbst zu reproduzieren. Ob und wie sie darüber aufklären und dies proaktiv thematisieren, ist eine persönliche Entscheidung.
Allerdings hängt es sehr von der Person und der Position ab, ob überhaupt ein Bewusstsein für das Thema vorhanden ist. Weiblich gelesene Künstler:innen sind oft sensibler für das Thema und nutzen ihre Bühne für Aufklärung, während vielen männlichen Künstler dieses Bewusstsein fehlt. Die Verantwortung ist da, doch sie wird nicht unbedingt wahrgenommen.
Wie kann die öffentliche Debatte über sexualisierte Gewalt in der Musikszene weiter vorangetrieben werden, um Bewusstsein und Veränderung zu schaffen?
Die aktuelle Entwicklung, dass immer mehr Veranstaltungen mit Awareness-Konzepten und Awareness-Teams arbeiten, ist dafür sehr erfreulich, denn so wird das Thema proaktiv im Alltag angegangen. Dies kann durch entsprechende Berichterstattung unterstützt werden, denn es braucht ein breites Wissen dazu, sodass gesamtgesellschaftlich darüber gesprochen wird und mehr Werkzeug an die Hand gegeben wird, um Grenzen zu wahren und diese zu kommunizieren.
Dazu brauchen wir auch einen konkreten rechtlichen Handlungsrahmen. Wir setzen uns dafür ein, dass das Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz endlich reformiert wird und dann auch Selbstständige umfassend schützt. Auch Musikhochschulen sind wichtige Orte für die Ausbildung junger Menschen – auch sie sollten Safer Spaces sein. Dafür brauchen sie ebenfalls mehr rechtliche Befugnisse, insbesondere die Gleichstellungsbeauftragten. Das können neue Hochschulgesetze lösen. Das sind klare, konkrete Forderungen. Es ist unsere Aufgabe, die öffentliche Debatte mit konkreten Forderungen zu unterfüttern, um vom Reden ins Handeln zu kommen.
Sind die Reaktionen der Fans, die Lindemann weiterhin feiern, Ausdruck eines generellen gesellschaftlichen Problems?
Die kurze Antwort ist: Ja. Etwas ausführlicher lässt sich festhalten: Durch die Reaktionen der Fans, die Lindemann weiterhin feiern, zeigt sich der gesellschaftlich erlernte Umgang mit Machtmissbrauch, sowie das dahinter liegende Patriachat und die Misogynie. Wir beginnen gesellschaftlich gerade erst damit Mechanismen und Strukturen zu entwickeln, Vorwürfe von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt aus Opferperspektive ernst zu nehmen und aufzuarbeiten.
Es bedeutet viel Selbstarbeit und Reflektion des eigenen Verhaltens, inkl. der Bereitschaft Fehler einzugestehen und Verhalten daraufhin auch zu verändern, um lang erlernte und gesellschaftlich akzeptierte Muster, wie Täter-Opfer-Umkehr tatsächlich in Frage zu stellen und aktiv andere Umgangsweisen zu üben und etablieren. Einzelne Personen und Gruppen beginnen damit, doch es ist nicht leicht, solch gesellschaftlich tief verankerten Verhaltens- und Denkmuster tatsächlich zu verändern.
Wie kann die Musikbranche verhindern, dass Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt hinter den Kulissen toleriert oder verschleiert werden?
Proaktive Awarenessarbeit und Code of Conducts können alle Beteiligten aufklären und schützen. Weiterhin braucht es einen offenen Umgang mit diesen Themen, geschützte Räume zum Austausch darüber und insgesamt brauchen wir seitens der großen Player der Musikbranche die Mitarbeit zu all diesen Themen.
Was muss sich ändern, damit Betroffene von sexualisierter Gewalt auch in der Musikwelt sicherer auftreten und Vorfälle leichter melden können?
Es braucht überall sichtbar und leicht zugängliche Awareness-Stellen und Personen, die ansprechbar sind. Bei Veranstaltungen, sowie vor Ort, braucht es geschulte Personen, die Menschen direkt und unkompliziert helfen, wenn etwas passiert ist. Mit der Präsenz der Awarenessteams und entsprechenden Awarenesskonzepten ergibt sich idealerweise zudem das Gespräch vorab im Planungsteam, unter den Künstler:innen und auch bei den Gästen, sodass klarer wird, wo eine Grenzüberschreitung beginnt, wie jede einzelne Person reagieren kann, und wo es Hilfe gibt.
Welche Verantwortung haben Medien, wenn sie über solche Vorwürfe berichten, insbesondere in Bezug auf die Opferperspektive?
Medien haben die Verantwortung aufzuklären und Opfer ernst zu nehmen. Vertrauensvolle Verdachtsberichterstattung ist ein wichtiges Werkzeug, die im Hintergrund und Austausch mit den Betroffenen ggf. professionell begleitet werden sollte. Es gilt einerseits, die Öffentlichkeit zu informieren und gleichzeitig, Betroffene zu schützen.
Weiterhin braucht es eine differenzierte und nicht reißerische Berichterstattung zu den Tätern, die diesen ggf. wieder eine Bühne und Aufmerksamkeit gibt. Für den Künstler ist auch schlechte Presse, Presse, die das Konzert ankündigt – so bleibt die Frage: Mit welchem Fokus und Mehrwert werden Artikel veröffentlicht – was ist die Nachricht?
Music Women* Thüringen – Neues Netzwerk für Vielfalt und Gleichberechtigung in der Musikbranche
Wie können Netzwerke wie Music Women* Thüringen aktiv dazu beitragen, eine Musiklandschaft zu schaffen, in der Machtverhältnisse und Übergriffe nicht mehr toleriert werden?
Wir und andere Netzwerke können die Themen durch unsere Arbeit immer wieder ansprechen – auf der Bühne, aber auch dahinter, in der Vor- und Nachbereitung. Wir können auf unseren Veranstaltungen zeigen, was bereits möglich ist und wie Veranstaltungen stattfinden können, auf denen sich alle Beteiligten sicher fühlen.
Gemeinsam mit anderen können wir die vorhandene Vielfalt an Veranstaltungsformaten, die z.B. Awareness bereits mitdenken, zeigen und darüber informieren. Hier können uns die Medien unterstützen, indem über Veranstaltungen und Konzepte berichtet wird, die helfen. Denn letztlich braucht es das Wissen um die Möglichkeiten an vielen Stellen, sodass Awarenessarbeit und eine sicherere Branche ohne Machtmissbrauch selbstverständlich werden – und kein Nice-to-have-Add-On bleiben.
Hard Facts:
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