Seit 30. Juli bis zum 18. August steht mitten auf dem Platz der Völkerfreundschaft in Erfurt ein alter Schiffscontainer, der zu einem Begegnungsort werden soll. Eine „Wellness- und Demokratieoase“ im Erfurter Rieth. Es handelt sich dabei um ein Projekt der PHOENIX Theaterfestivals, das zudem von 15. bis 18. August erstmals die Plattenstufen-Festspiele an diesem Ort initiiert. Mit einem Tagungsprogramm, Gastspielen, einer Lesung und einem vielfältigen Rahmenprogramm soll der Platz in ein kulturelles Zentrum verwandelt werden.
Plattenstufen-Festspiele in Erfurt
Zu Gast ist dann auch der Fonds Darstellende Künste mit seinem Projekt „Die Kunst, viele zu bleiben. Bundesweite Foren für Kunst, Freiheit und Demokratie“. Dabei handelt es sich um einen Theater-Truck, der an insgesamt neun Stationen deutschlandweit hält. Eine davon ist Erfurt. Mit Kunst, Aktionen und Debatten verbindet der Truck Theater, Festivals und freie Produktionsorte dieser und zahlreicher weiterer Städte im In- und Ausland. Und ist als eine ganz praktische Freundschaftsstrategie mit Netzwerken, Communitys, dem Grand Beauty Salon gedacht und mit dem streitenden, singenden (Bürger:innen-)Chor „Annamedea und ihr Meckerchor“ entsteht ein widerständiges, streitbares Gemeinwesen vor Ort. Drüber hinaus erwartet die Besucher:innen der Festspiele ein buntes Programm aus Theater, Debatte und Kunst.
PHOENIX Theaterfestival im Interview
Wir sprachen vorab mit Holger Bergmann, dem Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, und Anica Happich, der künstlerische Leiterin Plattenstufen-Festspiele und des PHOENIX Theaterfestivals, über die Projektwochen im Erfurter Rieth.
Vom 15. bis 18. August veranstaltet ihr die Plattenstufen-Festspiele auf dem Platz der Völkerfreundschaft. Irgendwie fühlen sich der Ort (Rieth mit AfD als stärkster Kraft in der Kommunalwahl) und der Ortsname (Platz der Völkerfreundschaft) ziemlich ambivalent an. Bilde ich mir das ein?
Anica Happich: Die Begriffe „Volk“ und „Völkerfreundschaft“ werden natürlich je nach politischer Haltung unterschiedlich besetzt und auch (aus)genutzt. Diese Ambivalenz lässt sich nicht vermeiden. In der Festspiel-Eröffnung am 15. August diskutieren Peggy Mädler, Annett Gröschner und Wenke Seemann in ihrer Lesung „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ genau über diese Begriffe und fragen: Was bedeuten die Begriffe heute? Brauchen wir diese Begriffe noch? Sind sie unwiederbringlich an extrem rechte Parteien verloren?
Die Diskussion findet dort statt, wo sich die Bewohner:innen aus dem Rieth treffen. Dem Mittelpunkt im Stadtteil Rieth – auf dem Platz der Völkerfreundschaft. Dem ursprünglichen Bau des Platzes der Völkerfreundschaft lag der sozialistische Völker verbindende Gedanke zugrunde. Dieser Gedanke wurde im Ursprung mit einem Brunnen und Figuren aus Porzellan der Partnerstädte Rechnung getragen und symbolisiert von je her den Mittelpunkt im Stadtteil Rieth.
Hier halten die Erfurter:innen einen Schwatz, gehen zur Apotheke und ins Ärztehaus oder nutzen die nahe gelegenen Einkaufsmöglichkeiten. Der Stadtteil hat seit 2009 durchgängig einen Ortsteilbürgermeister mit SPD-Parteibuch. Und seit 2015 gibt es das ESF plus geförderte Th.INKA-Projekt im Rieth – das Stadtteilbüro. Beide zusammen fördern und unterstützen die Netzwerke, Begegnungen, bieten Sprechstunden als auch im Beratungssetting zu den Stadtteilbüro- Sprechzeiten für die Bewohner:innen an. Es bleibt eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit: Gesprächskanäle offen zu halten, Begegnungsorte zu schaffen, in denen Vielfalt koexistiert
Warum ist es euch und dem Fonds Darstellende Künste wichtig, gerade an diesem Ort Kunst, Kultur und Austausch zu ermöglichen?
Holger Bergmann: Alle Menschen haben ein Recht auf kulturelle Teilhabe! Da ist es aus Sicht der Freien Künste eine Selbstverständlichkeit, nicht in Kulturinstitutionen auf neue Publikumsgruppen zu warten, sondern mit der Kunst selbst öffentliche Plätze in der Stadt und auf dem Land aufzusuchen. Dort ermöglichen wir mit unterschiedlichen Formaten wie Konzerten, Workshops und einem transkulturellen Schönheitssalon den Austausch von Erzählungen und Wahrnehmungen.
Anica: Wichtig ist immer der Kontext: Für viele Menschen im Rieth kann ein Kunst- und Kulturerlebnis nur stattfinden, wenn es kostenfrei, beziehungsweise einen Zuschuss/ Rabatt einräumt, möglichst barrierefrei und in naher Entfernung erreichbar ist. Die Frage für uns ist also: Warum nicht dahin gehen, wo die Menschen leben und an Traditionslinien anknüpfen?
Schon zu DDR-Zeiten gab es in der Vilnius-Passage eine Diskothek und ein Tanz-Café. Nach der Wende waren die Punkthochhäuser Studentenwohnheim und „Party-Zone“ der Pädagogischen Hochschule zugleich. Und das größte frei stehende Wandbild von Erich Enge symbolisiert seit Ende der 60er-Jahre seine künstlerische Botschaft „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift“. Aufgegriffen wurden diese Punkte unter dem Aspekt der soziokulturellen Vielfalt 2019 durch Architekturstudenten und später in Kooperation mit dem Stadtteilbüro Rieth, welche mit einem frei stehenden Raum in der Vilnius-Passage Kunst, Architektur und Kultur für ein knappes halbes Jahr für die Bewohner:innen vor Ort und für zahlreiche Gäste erlebbar machten.
Heute stellen viele Kulturinstitutionen die Frage: Wie erreichen wir neues Publikum? Wie und mit welchen künstlerischen Formaten können die Häuser den aktuellen Ansprüchen eines öffentlichen Kulturortes für die Stadtgesellschaft gerecht werden? Als Begegnungsstätte, gemeinschaftsstiftender Kunstraum und Kulturversorger für möglichst viele Menschen. Unser Verein PHOENIX e. V. ist keine Institution. Wir haben kein Haus und wenige, andere Mittel. Trotzdem nehmen wir uns dieser Verantwortung und der Aufgabe an und setzten unsere begonnene Arbeit mit dem Statteilbüro Th.Inka vom letzten Jahr konsequent fort.
Bereits seit 30. Juli verwandelt ihr bis zum 18. August den Platz der Völkerfreundschaft in eine Wellness- und Demokratieoase. Was habt ihr da fast drei Wochen lang vor?
Anica: Teammitglied Björn Schorr hat die Idee entwickelt, mithilfe eines alten Schiffscontainers einen temporären Begegnungsort zu erproben. Dem Rieth fehlt es an solchen Orten. Gleichzeitig gibt es viele zivilgesellschaftliche Initiativen, Kulturvereine und engagierte Menschen, die tolle Angebote für alle Altersgruppen haben. Diese Angebote holen wir mitten auf den Platz der Völkerfreundschaft und machen diese Vielfalt und das Engagement damit sichtbar.
Es werden Themen behandelt wie Care-Arbeit von Angehörigen, Upcycling und Recycling, Sensibilisierungsworkshops zu Stadttauben, Mitmachangebote für Kids und Jugendliche und viele weiter Austauschmöglichkeiten werden in Form von Workshops, Diskussionsrunden und Informationsveranstaltungen kostenfrei angeboten. Gleichzeitig wollen wir mit Sonnenschirmen und Sitzgelegenheiten eine Aufenthaltsqualität erzeugen. Ein großes Dankeschön jetzt schon allen Menschen, die dieses Projekt mitgestalten. Sie sind ein Vorbild, selbstmotiviert und gestalterisch anzupacken und zu zeigen: Hey Leute, lasst uns solidarisch eine gute Zeit in diesen heißen Tagen miteinander verbringen.
Wellness ist laut Wikipedia ein Anglizismus, der nach modernem Verständnis für ein ganzheitliches Gesundheitskonzept steht – Inwiefern korrespondiert das mit Demokratie?
Anica: Ja, den Wellness-Begriff betrachten wir kritisch. Er ist definitiv ein Türöffner für eine Diskussion. Hinter dem Begriff steht ja nicht nur ein Gesundheitsversprechen, sondern eine ganze Industrie: Ernähre dich gut. Optimiere deinen Körpern, dann lebst du länger. Konzentriere dich vollends auf dich. Pflege dich, damit du schöner und jünger aussiehst. Das alles baut gesellschaftlichen Druck auf und kann viel Geld kosten. Wer kann sich die Wellness also leisten? Wer gehört dazu und wer nicht? Kann ich in Würde altern und leben? Oder bin ich Ausgestoßene, wenn ich nicht mitmache?
Selbstfürsorge ist wichtig. Gar keine Frage. Wir wollen Druck rausnehmen, indem wir den Fürsorgebegriff ausweiten: Fürsorge sind auch Angebote, die gemeinschaftsstiftende Erlebnisse fördern. Wissen und Fähigkeiten teilen, zusammen weiterbilden, zusammen lachen, Neues kennenlernen. Das Wohlbefinden ist zudem eine wichtige Grundlage für das Ankommen in einer fremden Gesellschaft. Das Aushalten von Unterschieden, das Finden von Gemeinsamkeiten und sich umeinander kümmern – das ist für mich Teil einer gelebten Demokratie.
Vom 15. bis 18. August finden die eigentlichen Festspiele statt. Ihr habt unglaublich viele Kooperationen und Veranstaltungen. Eine davon mit dem Fonds Darstellende Künste. Wo setzt sich da der Kerngedanke des PHOENIX Festivals fort?
Holger: Der Fonds fördert und begleitet bundesweite innovative Modellprojekte in den Freien Darstellenden Künsten, so auch das PHOENIX Theaterfestival, wo mit Mitteln des Theaters und der Kunst Alltagsorte in Räume sozialer Kommunikation verwandelt werden.
Anica: Der Fonds kommt dieses Jahr mit seinen bundesweiten Foren für Kunst, Freiheit und Demokratie „Die Kunst, viele zu bleiben“ neben Weimar auch nach Erfurt. Als wir letztes Jahr angerufen wurden, hat mich das berührt. Wir sind bei weitem die kleinste Struktur, mit der der Fonds Darstellende Künste kooperiert. Damit würdigt er unsere Arbeit der letzten drei Jahre und zeigt: Wir sehen euch. Und natürlich haben wir noch viele andere wichtige Kooperationspartner:innen, wie unseren Hauptpartner das Stadtteilbüro Rieth, der FestivalFriends Verbund, die Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen, das Theater Erfurt, den Thüringer Theaterverband, die Stadt Erfurt oder die Gemeinschaftsschule 10 und die Otto-Lilienthal Schule. Der Kooperationsgedanke und das Ressourcen-Sharing ist Teil unserer Strategie: radikale Kooperation, Kollaboration und Co-Kreation. Das wollen wir mit Leben füllen auf allen Ebenen unserer Arbeit und im Programm.
Welche zwei Veranstaltungen sollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen?
Anica: Ich bin Kuratorin des Programms. Die Frage bringt mich in eine wirklich schwierige Situation. Ich versuche es mal so: Die Erfurter:innen wünschen sich seit 2021 ein Musical von uns. Das lösen wir dieses Jahr mit Cats of Erfurt ein. Das Musical ist in Anlehnung von Lloyd Webbers Dauerbrenner Cats von der Gruppe glanz&krawall weiterentwickelt worden. Es wird getanzt, gesungen und gejault. Ein großer Spaß, der politisch ist und wichtige Fragen stellt: Wer ist etwas wert in unserer Gesellschaft und wen oder was sortieren wir als „Schrott“ aus? Was wird zu Unrecht marginalisiert und aussortiert und welcher Schrott wird behalten, obwohl eigentlich alle wissen, dass er dringend entsorgt werden müsste?
Als soziokulturelles Angebot möchte ich allen den preisgekrönten transkulturellen Grand Beauty Salon aus Leipzig ans Herzen legen. Dort können Kinder und Erwachsene sich verwöhnen lassen. Schönheit als Geste des solidarischen Umgangs miteinander. Gemeinsam mit unseren Gästen wollen wir einen Raum schaffen, in dem sich Menschen begegnen, mit Schönheits- und Körperbildern experimentieren und eigene Vorurteile hinterfragen können. Und ganz wichtig: Für die Kids und ihre Familien haben wir vom stellwerk junges Theater Weimar das Stück „Durch Dick und Dünn“ dabei.
Inwiefern transportieren die gezeigten Programmpunkte Demokratiegedanken?
Holger: Sich gemeinsam für ein besseres Leben für alle zu engagieren, ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Viele denken bei der Vorstellung von einem besseren Leben nur an sich oder an ihnen Ähnliche. Die Herausforderung in der Demokratie besteht aber immer darin, eine Mehrheit aus unterschiedlichen Perspektiven und Sichtweisen zu bilden. Einen solchen Austausch ermöglichen Formate wie “Annamedea und ihr Meckerchor” oder „Schön einmischen! Eine Übung im Senf dazu geben.“
Ist das, was ihr dort macht, noch Theater? Was kann Theater eurer Meinung nach leisten?
Holger: In der Darstellung der Gegenwart kann man der Realität häufig näherkommen. Im besten Fall bringen solche imaginierten Szenarien sogar soziale Differenzen zum Verschwimmen.
Anica: Ich überlasse die Bewertung, ob das „Theater“ ist unseren Gästen. Was wir leisten können, sind Begegnungsräume zu kreieren und diese Kontexte zu halten. Wir stellen mit den Mitteln der Kunst Fragen, entwerfen Lebenskonzepte für eine gemeinsame Zukunft und spielen diese auf der Bühne durch. Wir können unsere Gegenwart kritisch befragen und ihr auch mit viel Witz und Humor begegnen.
Was wollt ihr generell mit den Plattenstufen-Festspielen und der Reihe „Die Kunst, viele zu bleiben“ erreichen?
Holger: Wir wollen Räume erzeugen, in denen die Menschen, die sein können, die sie sind. Und wir möchten Hoffnung auf ein Zusammenleben stiften, das den respektvollen demokratischen Umgang mit allen möglich macht und Widersprüche nicht zudeckt, sondern zulässt.
Anica: Ich würde das gerne mit den Worten von Evelin Richter vom Stadtteilbüro Rieth beantworten. „Kunst sollte nicht in der Erwartung verharren, gesehen zu werden, sondern den Anspruch haben, sehen zu wollen. Der Erfurter Norden mit seinen Stadtteilen ist mehr als nur Plattenbau. Er ist Kunst, kulturelle Vielfalt und architektonische Historie.“ Uns geht es um Aufwertung statt Vorurteile, Würde statt Abwertung, Fürsorge statt Ignoranz. Wenn wir dafür Achtsamkeit und eine Sensibilisierung schaffen, dann haben wir viel erreicht.
Hard-Facts:
- Wellness- und Demokratieoase: 30. Juli bis 18. August
- Plattenstufen Festspiele: 15. – 18. August
- Platz der Vökerfreundschaft Erfurt Rieth
- Mehr: phoenixfestival.de | Instagram
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