Der Pride Month ist da. Auch dieses Jahr ist der Juni wieder Gedenkmonat für „LGBTQIA+“-Geschichte und Kultur. Den gesamten Monat lang finden diverse Veranstaltungen für queere Personen sowie zahlreiche Proteste gegen die Diskriminierung dieser statt. Der Pride Month steht für Selbstbewusstsein und Toleranz. „Pride“ bedeutet so viel wie „Stolz“ – und genau das sollen queere Menschen sein. Sie sollen sich nicht schämen, anders zu sein, sondern ihre Freiheit und Vielfalt feiern.
Unbekannte sexuelle Orientierung in den Fokus setzen – die Asexualität
Auch wir vom t.akt-Magazin möchten diese Vielfalt zelebrieren und rücken dafür eine eher unbekannte sexuelle Orientierung in den Fokus – die Asexualität (Abkürzung: Ace). Während viele etwas mit „lesbisch“, „schwul“ und „bisexuell“ anfangen können, sieht das bei „asexuell“ ganz anders aus. Oft benötigt es erst eine tiefere Auseinandersetzung mit „LGBTQIA+“-Themen, bevor man überhaupt auf den Begriff „asexuell“ stößt. Wir haben uns mit Lennart Thiem vom AktivistA Verein unterhalten, der sich auf Bundesebene, für die Belange asexueller Menschen einsetzt.
In der Definition von Asexualität heißt es, dass asexuelle Menschen keine oder nur wenig sexuelle Anziehung verspüren. Die sexuelle Orientierung wird also mit etwas erklärt, das viele Ace-Personen nicht nachvollziehen können. Findest du diese Definition problematisch?
Keine oder geringe sexuelle Anziehung zu empfinden, bedeutet nicht, das Konzept nicht nachvollziehen zu können. Alle Sexualitäten (z. B. Homo- und Heterosexualität) werden aufgrund der empfundenen sexuellen Anziehung benannt. Ist sie nicht oder kaum vorhanden, ist ein Begriff wie Asexualität hilfreich, um sich anderen mitzuteilen und eine Community zu finden. Er stammt aus der Community und seine Definition wird in ihr diskutiert. Deshalb halte ich ihn nicht für problematisch.
Was sollte man tun, wenn man sich als Ace, Aro (aromantisch) oder ähnliches outed und Reaktionen wie „ach quatsch, sowas gibt es nicht“, „du findest schon noch die richtige Person“, „das kommt noch“ etc. bekommt?
Diese Reaktionen sind immer grenzüberschreitend und verletzend. Mit ihnen wird gesagt: „Du kennst Dich nicht, aber ich kenne Dich besser als Du selbst”. Hinter ihnen kann vieles stecken, aufrichtige, wenn auch taktlose Neugierde, Unverständnis, Spott oder Aggression. Eine Rolle spielt auch, in welcher Situation sie geäußert wird, ob z. B. in einer Partnerschaft, Familie, im religiösen oder medizinischen Rahmen. Deswegen gibt es darauf nicht die eine richtige Antwort. Wichtig ist jedoch immer: Die eigene Existenz muss nicht bewiesen oder gerechtfertigt werden. Weise Menschen auf Möglichkeiten hin, sich zu bilden, und entscheide selbst, ob und wie du ihnen dabei hilfst. Achte auf deine Grenzen. Und tausche dich mit anderen asexuellen Personen (Aces) aus, wir alle haben diese Erfahrungen machen müssen.
Asexualität ist ein Spektrum. Kannst du das für unsere Leser mal genauer erklären?
Sexuelle Identitäten sind Begriffe und Hilfsmittel, kein „Club”. Und sexuelle Anziehung ist keine „entweder/oder”- Angelegenheit. Manche Aces empfinden sie nie, andere nur bei einer starken emotionalen Bindung und andere wiederum sehr selten. Sie alle merken aber, dass sie nicht der allosexuellen Norm entsprechen. Allosexuelle bedeutet: sexuelle Anziehung empfinden, und die Norm ist, dass wir alle gelernt haben, das sei fester Teil der menschlichen Natur. Und statt eine neue Norm zu schaffen, die erneut Menschen ausschließt, beschreiben Aces ihre unterschiedlichen Erfahrungen als ein Spektrum.
Welche Probleme können für asexuelle oder aromantische Personen in einer sehr sexgeprägten Gesellschaft entstehen?
Die größte Hürde ist, sich selbst kennenzulernen, zu akzeptieren und zu lieben, obwohl wir nie gelernt haben, dass wir existieren. Schwer ist es auch, Beziehungen zu führen, die ebenso unseren Bedürfnissen entsprechen, wie denen anderer – dafür fehlen uns Vorbilder und Sprache. Dieses fehlende Wissen spricht meiner Meinung nach auch gegen die Idee einer „sexgeprägten” Gesellschaft. Sie mag Sex generell überbewerten und vor allem weibliche gelesene Körper objektivieren. Wirklich offen über Sexualität, über ihre Spielarten, Konsens und die unterschiedliche Rolle, die Sex für Menschen im Leben spielt, wird aber nicht gesprochen. Nicht nur Aces, wir alle wachsen mit vereinfachten Ideen auf, die uns schaden.
Welche Rolle spielt die Gesellschaft bei der Akzeptanz von asexuellen und aromantischen Menschen?
Eine Gesellschaft muss sich ihrer Prinzipien und Grundsätze bewusst sein: Erwarten wir, dass alle den gängigen Vorstellungen von z. B. Sexualität, Ethnie, Lebensweg entsprechen müssen? Oder wollen wir Varianz offen und akzeptierend begegnen? Auf Letzteres sind alle marginalisierten Gruppen angewiesen. Dafür ist ein struktureller Schutz, z. B. durch Bildung (Schulen und Gesundheitswesen) und Gesetze (z. B. Schutz von sexuellen Minderheiten im Grundgesetz) angewiesen. Sie können dafür sorgen, dass ein gutes Leben nicht vom individuellen Wohlwollen anderer abhängt. Bis dahin ist es gerade leider noch ein sehr weiter Weg.
Es gibt die Fehlinterpretation, dass asexuelle Personen keine romantischen Beziehungen führen, jedoch ist sexuelle Orientierung nicht das gleiche wie romantische Orientierung. Was ist der Unterschied zwischen den beiden?
Sie unterscheiden sich durch die Art der Anziehung: Ist sie romantisch oder sexuell? Der Unterschied spielt auch für Menschen mit sexueller Anziehung (Allosexuelle) eine Rolle: Nicht jede Person, mit der ein Mensch Sex hat, ist ihr romantischer Partner, manchmal ist es einfach casual. Dort besteht also nur sexuelle Anziehung. Manche Aces empfinden romantische Anziehung, andere nicht. Und manche Aros Personen empfinden sexuelle Anziehung, andere nicht. Manche sind beides, asexuell und aromantisch.
Welche Herausforderungen erleben asexuelle und aromantische Menschen in Beziehungen? Wie können Partner:innen von asexuellen oder aromantischen Menschen unterstützen?
Grundsätzlich glaube ich, dass jede intime, partnerschaftliche Beziehung (egal ob sexuell oder nicht) die gleichen Herausforderungen hat: Wie können wir offen kommunizieren, wo sind unsere Grenzen, was für ein Leben wollen wir gemeinsam führen? Für Aspecs (Menschen auf dem asexuellen und/oder aromantischen Spektrum) kommt erschwerend hinzu, dass behauptet wird, dass alle Menschen sexuelle oder romantische Anziehung empfinden müssen, um gesund zu sein. Außerdem haben die wenigsten, egal, ob Aspecs oder nicht, gelernt, offen über ihre Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen. Beziehungen basieren zu oft auf Mutmaßungen, unausgesprochenen Erwartungen und Vorstellungen einer vermeintlichen „Normalität”.
Asexuell bedeutet nicht gleich, dass man Sex abstoßen findet. Manche Aces sind auch sex-positiv oder haben selbst Sex. Dennoch denken viele Menschen, dass asexuelle Personen strikt gegen sexuelle Aktivitäten sind. Wie kann man besser über die verschiedenen Untergruppen aufklären, um solche Missverständnisse zu vermeiden?
Asexualität ist keine moralische, religiöse oder sonstige Entscheidung oder Haltung, sondern Teil einer Person. Sex-positivity bedeutet für mich, Sexualität frei von Scham und moralischen Wertungen betrachten zu können, egal, ob Mensch Sex hat oder nicht. Davon abgesehen haben manche Aces Sex. Gründe können z. B. ein Kinderwunsch oder der Genuss körperlicher Nähe sein. Aces, die Sex genießen können, sind Sex zugeneigt (sex-favorable), manche stehen ihm gleichgültig gegenüber (sex-indifferent) oder sind ihm abgeneigt (sex-repulsed). Und gegen Missverständnisse hilft wie immer: Aufklärung, am besten verpflichtend in den Lehrplänen.
Viele Aces zweifeln oft selbst an ihrer Sexualität, sei es durch äußere Einflüsse oder gesellschaftliche Normen und Erwartungen. Kann man dagegen etwas tun?
Wir wachsen in einer Gesellschaft auf, die so gut wie nichts von Asexualität weiß oder sie pathologisiert, also als Symptom einer Erkrankung ansieht. Wer asexuell ist, doch nichts darüber weiß, probiert deshalb sehr wahrscheinlich, sich anzupassen, zu überwinden oder sogar eine unmögliche „Heilung” zu finden. Nichts davon hilft einer asexuellen Person. Die Folgen für die individuelle Gesundheit und die Fähigkeit zu gleichberechtigten, vertrauensvollen Beziehungen können verheerend sein. Und dagegen helfen kann wieder die Aufklärung aller.
Wie viele Microlabels hat das Ace-Spektrum? Gibt es da eine genaue Zahl oder kommen immer mal wieder neue Untergruppen hinzu? Wie finde ich ein Label, das zu mir passt?
Microabels (wie z. B. grau- oder aegosexuell) sind Hilfsmittel und können sich ändern, wenn sie nicht mehr hilfreich sind. Deswegen gibt es keine feste Anzahl. Ich würde niemanden dazu raten, gezielt nach dem einen „richtigen” Microlabel zu suchen. Neugierde schadet aber nicht. Wer sich intensiver mit seinem Ace-Sein beschäftigt, wird ihnen früher oder später von selbst begegnen. Jedes Label kann so lange verwendet werden, wie es sich richtig anfühlt. Oft erleichtern sie die Navigation und den Austausch innerhalb der Community. Ansonsten gilt: Asexualität ist ein Spektrum, nicht jeder Person helfen Microlabels.
Welche Ressourcen stehen asexuellen und aromantischen Menschen zur Verfügung? Gibt es Selbsthilfegruppen, Bücher oder Online-Communities?
Wir sind nicht von Asexualität „betroffen”, insofern gibt es keine „Selbtshilfegruppen”. Stattdessen gibt es eine lebendige Community, z. B. auf Discord, unseren Verein AktivistA und lokale Stammtische in vielen Städten. Deutschsprachige Quellen sind z. B. „(un)sichtbar gemacht: Perspektiven auf Aromantik und Asexualität (un)sichtbar gemacht: Perspektiven auf Aromantik und Asexualität” von Katharina Kroschel und Annika Baumgart oder „Das asexuelle Spektrum: Eine Erkundungstour” von Carmilla DeWinter oder der Podcast InSpektren.
Asexualität ist eine eher unbekannte sexuelle Orientierung. Viele Menschen erfahren erst spät und nach intensiver Auseinandersetzung mit „LGBTQIA+“- Themen davon. Wie könnte man Asexualität oder auch Aromantik mehr in den Vordergrund rücken, sodass mehr Menschen davon erfahren?
Durch systematischen und inklusiven Sexualunterricht in Schulen, verpflichtende Weiterbildung im Gesundheitswesen und eine Gesetzgebung, die den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten und Familienmodellen asexueller und anderer queerer Personen entspricht und vor Diskriminierung schützt.
Hard Facts:
- Im Queeren Zentrum Erfurt trifft sich am 4. Sonntag im Monat von 16 bis 18 Uhr eine Aspec-Gruppe
- zum Vernetzen: Discord www.aspecgerman.de |Verein AktivstA www.aktivista.net
- Queeres Zentrum auf Instagram | AktivistA auf Instagram