Nach 1990 fielen in Thüringen unzählige Betriebe der Treuhand zum Opfer – Fabriken, Produktionshallen und Verwaltungsgebäude standen plötzlich leer. Was für viele den Verlust von Arbeit und Identität bedeutete, öffnete zugleich Räume für etwas Neues: Techno.
Von Apolda bis Jena: Thüringens Clubs in stillgelegten Betrieben
Zwischen stillgelegten Webstühlen, verlassenen Schlachthöfen und leergezogenen Verwaltungsbauten wuchs eine Szene, die Musik, Raum und Transformation miteinander verband. Laut dem künstlerischen Forschungsprojekt „TreuhandTechno“ war dieser Zusammenhang kein Zufall, sondern eine direkte Folge der Wendejahre.
„Ohne Treuhand kein Techno“ – so zugespitzt fasst Anna Stiede, Sprecherin des Projekts „TreuhandTechno“, die Erkenntnisse ihrer Arbeit zusammen. Gemeinsam mit der künstlerischen Leitung Susann Neuenfeldt und dem Berliner Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen reist sie durch Ostdeutschland, um die Verbindungen zwischen der Abwicklung der DDR-Industrie und der parallelen Entstehung der Technokultur zu untersuchen. Das Projekt stand bereits in Apolda und Jena auf der Bühne – oder besser gesagt: im ehemaligen Club.

Neuenfeldt erklärt: „Beides – Techno und Treuhand – fand zeitgleich statt, und wir fragen, was diese beiden Welten miteinander zu tun haben.“ Die Antwort liegt oft ganz konkret in den Räumen selbst: leerstehende Betriebe, die plötzlich für Partys, Konzerte und Clubs zur Verfügung standen. Teilweise gab es vor Ort noch Strom, weil die Räume fluchtartig verlassen wurden. Infrastruktur, die leicht übernommen werden konnte.
Leerstehende Betriebe wurden zu Clubs
Ein prägnantes Beispiel liefert Apolda. Die Stadt war jahrzehntelang Zentrum der Textilindustrie – bis die Treuhand in den frühen 1990er-Jahren zahlreiche Fabriken abwickelte. „Wir fanden heraus, dass in den alten Textilfabriken Techno-Partys stattfanden“, sagt Neuenfeldt. „Die Stoffe der abgewickelten Fabriken wurden als Dekor genutzt.“ Auch die Geräuschkulisse der Textilmaschinen schien in die neue Musikform überzugehen: monotone Rhythmen, repetitiv wie ein Basslauf. Aus industriellem Arbeitsrhythmus wurde Tanzbewegung.
In Jena wiederum verlief die Verbindung laut dem Projekt abstrakter. Hier hatte die Treuhand die Abwicklung des VEB Carl Zeiss begleitet, oft als „Leuchtturmprojekt“ bezeichnet. Zeitgleich etablierte sich das Kassablanca als Club und Kulturzentrum, zunächst in einem leerstehenden Haus im Villengang in Jena. Nach langen Ringen um den Kulturort fand das Kassa schließlich 10 Jahre nach der Wende seine jetzige Heimat: einen ehemaligen Wasserturm mit einem zur Turnhalle umgebauten Lokschuppen am Jenaer Westbahnhof.
Leere Räume, die lange Zeit den Lärm der Industrie beheimateten und schließlich wieder Heimat elektronischer Klänge wurden. „DJ Mikk erzählte uns, dass der Techno-Raum anfangs ein Ruhe-Raum war“, erinnert sich Stiede. Inmitten ökonomischer Unsicherheit und politischer Gewalt bot diese neue Musik einen Schutzraum für die Jugend. „Die Treuhand-Abwicklung schien laut und aggressiv gewesen zu sein. Der Techno-Raum wurde zum Raum der Stille“, so Neuenfeldt.
Als Treuhand-Beschlüsse Thüringens erste Techno-Clubs ermöglichten
Auch andernorts in Thüringen nutzte die Szene verlassene Gebäude. In Erfurt etwa wurde das ehemalige Werksgelände der Firma Topf & Söhne nach 1990 besetzt und als Kulturort genutzt. In Eisenach fanden in der Alten Mälzerei Veranstaltungen statt, während in Kleinfurra bei Sondershausen das sogenannte „F-Gebiet“ oder die „Bienstädter Warte“ in den Fahner Höhen zu bekannten Treffpunkten für Open-Air-Raves und Hardcore-Partys wurde. Solche Orte prägten eine Generation, auch wenn sie oft nur temporär bestanden.
Verlorene Fabriken als Clubräume
Ebenso die Muna in Bad Klosterlausnitz profitierte vom Trubel der Wendezeit. Das Gelände war von einem Investor aus dem Westen übernommen worden, der die Immobilie brach liegen ließ. Wie es bei so vielen Orten und Gebäuden der Fall war, kam die Jugend, brachte Techno mit und okkupierte ungenutzte Räume, um dort die eigene Techno-Utopie zu leben.
Die künstlerische Forschung verweist zudem auf größere Parallelen: Techno entstand in den 1980er-Jahren in Detroit, ebenfalls in einer Region, die von Fabrikschließungen und Arbeitslosigkeit geprägt war. Diese Verbindung zur Deindustrialisierung macht die Übertragung auf Ostdeutschland nachvollziehbar. „Im Technotanzen liegt eine Sehnsucht nach Maschinenwerdung“, sagt Neuenfeldt. „Während in den VEBs Maschinen abgestellt wurden, entstand in Kellern eine Musik, die diese Sehnsucht feierte.“
Techno wurde zum Wende-Soundtrack
Römhild, Ohrdruf, Weira – Clubs entstanden in den Nachwendejahren in ganz Thüringen. Heute sind viele dieser Orte verschwunden oder neu genutzt. Doch das Erbe der frühen 1990er-Jahre wirkt fort – in Thüringen ebenso wie in der bundesweiten Technokultur. Für das Projekt „TreuhandTechno“ bleibt die Erkenntnis: Die Geschichte der Abwicklung durch die Treuhand ist nicht nur eine wirtschaftliche und soziale, sondern auch eine kulturelle. Und Techno wurde zum Soundtrack dieser Transformation.
