Verdammt, denke ich. Meine Freundin Caro strahlt mich an, in den Händen einen DIN-A3-großen Kartonumschlag. Freudig hält sie ihn mir entgegen. Noch kurz zuvor hatte ich ihr erzählt, wie sehr mir zwei Bilder aus der Ausstellung gefallen – so sehr, dass ich sie am liebsten sofort kaufen würde. Eines davon sollte es werden. Doch ich dachte, ich hätte noch Zeit, könnte in Ruhe überlegen, abwägen.
Anonyme Zeichner in Erfurt: Kunst, die überrascht
Aber ich bin zu spät. Die poppige Zeichnung, die Pebbles von den Flintstones zeigt, mit plakativ eingesetzter Schrift spielt und mich auf Anhieb begeistert hat, ist bereits verkauft. Eines der ersten Werke, welches an diesem Abend über den Tisch geht.
Ich habe bei der aktuellen Ausstellung in Erfurt zugeschlagen und freue mich mein eigenes kleines Unikat zu besitzen.. Foto: Anke Becker
Kein Stress, dachte ich. Niemand wird die Bilder, die ich mir beim Interview mit Anke Becker ausgeguckt habe, direkt nach der Ausstellungseröffnung wegschnappen. Und ja, durch meinen Job hatte ich sogar einen taktischen Vorteil – ich konnte eine Vorauswahl treffen. Außerdem beruhigte ich mich mit dem Gedanken: 250 Euro für eine Zeichnung sind in Zeiten der Inflation kein Pappenstiel. Das ist Luxus. So schnell wird da wohl niemand eine Kaufentscheidung treffen. Doch dann kommt alles anders als gedacht.
„Jetzt oder nie“
Meine Freundin Caro hat sofort zugeschlagen. Deshalb der Karton. Sie dachte sich wohl dasselbe wie der Käufer, der mir eines meiner favorisierten Kunstwerke vor der Nase wegschnappte: „Jetzt oder nie. Nicht, dass das Bild, in das ich mich sofort verliebt habe, plötzlich vergriffen ist.“
Die Zeichnungen können am Abend der Vernissage und an der Finissage in Erfurt erworben werden. Foto: Anke Becker
So kann es laufen bei der Ausstellung „Anonyme Zeichner“, die derzeit im Kunsthaus Erfurt zu sehen ist. 400 Künstler:innen – und von jeder und jedem ein einziges Werk. Ein Unikat. Ein Bild, in das ihre ureigene kreative Schaffenskraft geflossen ist. Mehr als „nur“ eine Zeichnung. Jedes der 400 Werke ist Teil eines größeren Ganzen – und doch maximal individuell. Jedes Bild, das an den Wänden des Kunsthauses hängt, ist einzigartig. Handgezeichnet. Ein Ausdruck kreativen Geistes, der sein Können auf Papier vergegenständlicht hat. Weltgewordene Kreativität. Faszinierend.
Eine gigantische Installation, in der das Ego zurücktritt
Jedes der 400 Werke in der Ausstellung „Anonyme Zeichner“ ist Teil eines Gesamtkunstwerks, das Anke Becker und ihre Künstlerkolleg:innen Veronike Hinsberg und Inken Reinert erschaffen haben. Eine gigantische Installation, in der das Ego der Kunstschaffenden zurücktritt und Platz macht für das pure Kunsterlebnis – unvermittelt, direkt, ungefiltert. Die Besucher:innen erhalten nur eine einzige Information: das Kunstwerk selbst. Kein Name, keine Erklärung, keine Kontextualisierung.
Diese Reduktion irritiert – und eröffnet zugleich eine seltene Möglichkeit: sich völlig vorurteilsfrei auf das Werk einer unbekannten Künstlerin oder eines unbekannten Künstlers einzulassen. Und das gleich 400-mal.
Langsam macht sich leichte Panik in mir breit. Die Umstände setzen mich unter Druck. Ich will auch eine dieser Zeichnungen besitzen. Eines der Werke, die Künstler:innen aus aller Welt nach Berlin zu Anke geschickt haben. Die eigens für die Ausstellung von ihr und ihren Kolleginnen für Erfurt ausgewählt wurden.
Kunsthaus Erfurt: Kunst kaufen ohne Vorurteile
Meine Freundin Caro hat ihre Entscheidung längst getroffen. Eine Zeichnung mit einem Astronauten. Sicher verstaut im Pappumschlag. Ich hingegen hadere. Mein Auto muss demnächst zur großen Inspektion – 400 Euro Kosten, mindestens. Soll ich wirklich 250 Euro für eine Zeichnung ausgeben? Kann ich mir das leisten? Aber zum Glück kann ich – impulsiv.
Ich habe mich für eine Zeichnung von Jürgen Grewe entschieden. Foto: Anke Becker
Caros strahlendes Gesicht, mein Faible für Kunst und das Wissen, dass dies eine einmalige Gelegenheit ist, treiben mich an. Ich will alle Kosten-Nutzen-Bedenken abschütteln, schlage zu – und sehe es positiv: Eines der grandiosen Kunstwerke, in das ich mich auf Anhieb verliebt habe, ist noch da. Und los.
„Es ist ein sozialistischer Einheitspreis“, scherzt Künstlerin und Projektinitiatorin Anke. 200 Euro gehen direkt an die Künstler:innen, 50 Euro fließen in die Realisierung des Projekts. Vor fast 20 Jahren entstand „Anonyme Zeichner“ – eine „Schnapsidee“, wie Anke es nennt. Frisch aus dem Kunststudium wollten sie und ihre Mitstreiter voller Tatendrang den Kunstmarkt erobern. Doch genau dieser zählt zu den absurdesten und unberechenbarsten Kapitalmärkten überhaupt.
Spekulation macht den Reiz aus
Preise explodieren allein wegen eines Namens – völlig losgelöst vom Werk selbst. Natürlich spielt Glück eine große Rolle. Die meisten Künstlerinnen und Künstler schaffen es nicht, sich auf dem ersten Kunstmarkt zu etablieren. Doch genau diese Spekulation macht den Reiz aus – sowohl an Kunst im Allgemeinen als auch an „Anonyme Zeichner“ im Speziellen. Ein Werk, das eben noch für 250 Euro zu haben war, kann Sekunden später ein Vielfaches wert sein – wenn sich dahinter Künstler verbergen, die bereits hohe Preise für ihre Werke aufrufen.
Die Wände im Kunsthaus lichten sich
Sobald ich bezahlt habe, wird meine erworbene Zeichnung von der Wand genommen. Zum Vorschein kommen Name und Herkunft der Künstler:in – sie füllen nun den leeren Fleck, den das Bild hinterlassen hat. So lichten sich die Wände im Kunsthaus.
Den Auswahlprozess hat Anke mittlerweile perfektioniert. Seit 20 Jahren veröffentlicht sie alle zwei Jahre eine Ausschreibung in einschlägigen Kunstmedien und -portalen. Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt können jeweils ein Werke einsenden.
Um möglichst vorurteilsfrei zu entscheiden, hat sie eine spezielle Homepage programmieren lassen – vergleichbar mit Tinder für Kunst. Sie sieht lediglich das Foto der Zeichnung. Wischt sie nach links, ist das Bild raus. Wischt sie nach rechts, wird es Teil von „Anonyme Zeichner“ und ausgestellt.
Bei der letzten Ausschreibung gingen rund 4000 Einsendungen ein. Ohne moderne Technik wäre diese Flut an Zeichnungen kaum zu bewältigen. 1000 Werke wählte Anke für den aktuellen Turnus aus – Kunst aus Südafrika, den USA, Europa, Malaysia, Indonesien und vielen weiteren Ländern. Wer dahintersteckt? Woher die Künstler:innen kommen, ob sie bekannt sind oder nicht – all das erfährt Anke erst nachdem die Post, also das Original bei ihr eintrifft.
Stolz trage ich den Pappumschlag
Ich selbst wähle für meine Wände eine Zeichnung von Jürgen Grewe, einem Berliner Künstler, dessen Stil an Kubismus und Brutalismus erinnert. Mein Schatz. Stolz trage ich den Pappumschlag durch die Vernissage. Begleitet von „Ohhs“ und „Ahhs“ zeige ich Freunden und Bekannten mein frisch erworbenes Kunstwerk.
Unmittelbar nach dem Kauf wird das Werk abgenommen. Der Name der Kunstschaffenden bleibt. Foto: Anke Becker
Und es gefällt – nicht, weil es einen bestimmten Preis hat, sondern weil es schön und kunstvoll ist. Weil es eine Geschichte erzählt. Die Geschichte eines Zeichners, der nun nicht mehr anonym ist und mit seinem Werk Teil eines bemerkenswerten Projektes war.
Noch bis Ende März ist „Anonyme Zeichner“ im Kunsthaus Erfurt zu sehen – einem der wenigen Orte in Thüringen, der raumgreifende Installationen zeigt. Danach zieht das Projekt mit Anke Becker weiter. In die nächste Stadt. Nach Hamburg. wo es erneut Menschen zu Kunst-Glücksspielenden macht – und ihnen einen außergewöhnlichen Zugang zu Kunst ermöglicht.
Die Bilder der Ausstellung können zudem online unter www.anonyme-zeichner.de erworben werden. Parallel zur Ausstellung „Anonyme Zeichner“ zeigt Bettina Munk von „Lines Fiction“ im Kunsthaus Erfurt 116 animierte Kurzfilme. Auch hierfür gab es einen internationalen offenen Aufruf zur Teilnahme. Mehr unter www.linesfiction.de.
Hard Facts
- Anonyme Zeichner: bis 28. März
- Dienstag bis Freitag | 12 bis 18 Uhr
- Kunsthaus Erfurt, Michaelisstraße 34
- Eintritt frei
- Mehr Informationen gibt’s bei anonyme-zeichner.de und unter kunsthaus-erfurt.de