Als etwas Leichtes, Freies, Zartes und Fliegendes beschreibt die Erfurter Autorin Julia Kulewatz die Poesie. „Manchmal tanzt sie“, sagt sie im Interview mit dem t.akt-Magazin. Bisher kannten wir Julia als Schöpferin von fantasievollen Kurzgeschichten. In ihrem neuen Werk „Orkaniden. Sturmgedichte“ fügt sie ihrem Oeuvre eine weitere dichterische Seite hinzu.
Erst Kurzgeschichten jetzt Lyrik oder Poesie. Um alle Leser abzuholen. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Lyrik und Poesie?
Die Wörter „Lyrik“ und „Poesie“ werden synonym verwendet, und doch gibt es für mich nicht nur im Phonetischen, also im Klang, einen Unterschied. Bei „Poesie“ denke ich unweigerlich an Poesiealben, die viele von uns hatten, die ich auch sammle wegen der wunderschönen Handschriften von Menschen, die ich nicht kannte oder kenne, denen ich mich aber durch die Poesie, durch die Wahl, die sie getroffen haben, und über die Kurven ihrer Handschrift nahe fühlen kann. Poesie hat auch etwas Alltägliches, vielleicht sogar Alltagstaugliches. Gleichzeitig ist sie leuchtend zart und ein bisschen geflügelt, wenn sie laut vorgelesen wird. Lyrik hingegen stellt sich selbst dem Krieg. Ich habe Lyrik geschrieben.
Warum gehst du mit „Orkaniden. Sturmgedichte“ einen neuen Weg und wählst einen Lyrikband?
Das war offenbar nur konsequent, wenn man lyrische Prosa schreibt, oder prosaische Gedichte. Zumindest waren meine Leser keineswegs überrascht, wie ich später erfahren habe. Ich habe mein literarisches Debüt ja bewusst mit Kurzgeschichten (Vom lustvollen Seufzer des Sudankäfers, 2017) gefeiert. Ich will mich als Autorin und Künstlerin stetig weiterentwickeln und setze mir selbst hohe Ziele. Lyrik, wahrhaftige Dichtung, ist im Anbetracht dessen, dass wir im Land der Dichter und Denker leben, für moderne Literatur eines der höchsten Ziele, die man sich als Autorin nur setzen kann. Dafür gibt es auch das Gedicht „Dichterin“ in den Orkaniden, das sich mit weiblicher Selbstvergewisserung im und durch den Schreibprozess befasst. Wenn dieser schiefgeht, bedeutet das für das lyrische Ich nichts Geringeres als Auslöschung, Vergessen-Werden, Selbstaufgabe, Tod oder Transformation durch dichterische, poetische Sprache. Das kann Lyrik.
Du hast mich in einem vorangegangen Interview zu meinem zweiten Kurzgeschichtenband Jenseits BlassBlau (2020) öffentlich „Lyrikerin“ genannt. Das hat mich zunächst irritiert und ich habe überlegt, ob das wahr ist oder ob es korrigiert werden sollte. Gewissermaßen hast du Anteil an dieser Entwicklung und jetzt ist es wahr; Lyrikerin, Dichterin (was für ein großes Wort, dem ich mich da stellen muss).
Dein Buch heißt „Orkaniden. Sturmgedichte“ – warum? Was sind Orkaniden?
Bei dem Wort „Orkanide“ handelt es sich um einen Neologismus von mir, eine sogenannte Wortneuschöpfung. Das unterstreicht meines Erachtens die kreative, transformierende und befruchtende Kraft (Windbestäubung) des Windes.
Orkaniden sind weibliche Sturmwesen und gleichzeitig ist jedes meiner Gedichte eine Orkanide oder wird von einer solchen begleitet und bewohnt, denn es handelt sich schließlich um Sturmgedichte. Es ist interessant, dass Sturmwesen in Kunst und Kultur nach wie vor vordergründig männlich konnotiert sind, denn den Wind nehme ich auch noch anders wahr. Ich habe die Orkaniden demnach auch geschaffen, um dem Weiblichen eine freie, große, wilde, stürmische und damit zum Teil auch gefährliche Stimme zu verleihen. Im titelgebenden Gedicht „Orkanide“ wird ein Jüngling von einer solchen verführt und geraubt. Er vertraut sich denselben „bangen Winden“ an, die zuvor selbst durch den Missbrauch des Orkans gegangen sind. Natürlich geht es hier auch um Liebe und das Vereinen von Gegensätzen. Ohne Liebe gibt es keine Schöpfung, kein Erschaffen, nur Konstruktion. Das Gedicht ist bereits 2012 entstanden und somit neben „Käferkind“ (2015) das älteste im Buch. Mit der Veröffentlichung 2021 schließt sich auch hier ein Kreis für mich.
Da der Wind „klingt“, habe ich bei den Gedichten besonders an der Sprachmelodie der einzelnen Passagen gearbeitet, was das Buch sofort für die Vertonung durch Musik attraktiv gemacht hat. Da haben wir als Verlag schon jetzt großartige Ideen und Angebote bekommen.
Was erwartet die Leser?
Die Künstlerin Jantien Sturm, übrigens eine Urgroßnichte Karl Mays, hat das folgendermaßen umrissen:
„Ich lese die wunderbaren Gedichte von Julia Kulewatz. Manche Zeilen sind so schön, dass ich diese wie ein Mantra immer und immer wieder laut vor mir hersage. Das, was sich in ihren Gedichten formt, ist wie das Wandeln in mehreren Dimensionen gleichzeitig. Es ist wie eine alte Geschichte, die neu erzählt wird und ganz viel Weisheit in sich trägt. Es sind nur Fragmente, kleine aufgedeckte Ecken einer wunderbaren Reise.“
Sie selbst begleitet und erweitert meine Gedichte durch ihre zehn wunderschönen, farbigen Illustrationen, die sich auch im Buch befinden. Jantien Sturm hat den Orkaniden Gesichter verliehen. Insgesamt versammeln sich 28 Gedichte, und ein Zyklus („Anemoi“), den man durchgängig liest. Die Anemoi schaffen Rückbezug auf die männlichen Windgötter des antiken Griechenlands, denn ich schätze es, beiden Geschlechtern und dem Dazwischen gleichermaßen Raum zu geben. Bianca Katharina Mohr hat die Gedichte in einem sehr aufwendigen Übersetzungsprozess, der so nur in enger Zusammenarbeit mit mir als Autorin stattfinden konnte, ins Englische übertragen, wobei sie u. a. auf das Shakespearean English der britischen Dichtung zurückgreift. Diese Entscheidung erklärt sie in einem ausführlichen Nachwort. Überhaupt war es eine große Teamleistung. Die Philosophin Dr. Annelie Freese hat ein einführendes Vorwort geschrieben und Stephan Herbst hat als Lektor und Redakteur Bild und Text schließlich zu einem großen Ganzen vereint. Es ist das erste Buch, das wir von Anfang an selbst gestaltet haben.
Laut Vorwort magst du das Mythische und Mystische, Magische und Märchenhafte. Was fasziniert dich daran?
Das wird mir oft nachgesagt, ja. Tatsächlich aber geht es um die Referenz und die Rückschau, bestenfalls die Integration von altem Wissen, von Wurzeln, denn ohne Wurzeln keine Flügel. Das Magisch-Märchenhafte kann auch Ablenkung sein oder gar zum „Sugar-Coating“ mutieren, um einen bösen „Anglizismus“ zu bedienen. Mit diesen spiele ich übrigens auch in meinem Gedicht „Social Plastic“, das zusammen mit Jantien Sturms Illustration dazu den Abschluss der Beuys-Ausstellung im Museum Burg Linn in Krefeld bildet. Das ehrt uns sehr.
Glaubst du, die Welt braucht gerade in dieser Zeit das Magische und Märchenhafte?
Ich kann nur sagen, was die Welt braucht, die ich bewohne und erschaffe. Magisches und Märchenhaftes kann sicherlich eine angenehme, vertrautverträumte Bühne bereiten. Genauso können auf dieser Bühne jedoch gesellschaftliche Missstände dargestellt werden.
Hoffst du, dass die Lese-Erfahrung deines Werkes etwas mit den Menschen und deren Welt macht?
Ich gebe das frei. Gedichte kann man ja immer wieder lesen. Mit manchen tritt man als Leser sofort in Resonanz, mit anderen später, mit einigen vielleicht niemals. Da kann auch die englische Sprache helfen, sie erzeugt Brücken und eröffnet weitere Resonanzräume und damit Möglichkeiten. Es geht darum, dass man sich traut, sich wirklich auf Texte und Bilder einzulassen. In dieser Erfahrung kann man sogar frei werden, wenn man sich hingibt, sich fallen lässt, auch auf die Gefahr einer unerwarteten Vereinigung hin.
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