Endlich ist die Zeit der Corona-Einschränkungen vorbei. Adieu Kontaktbegrenzung. Ciao Verzicht. Es ist an der Zeit, wieder rauszugehen, die Welt zu entdecken und gemeinsam das Abenteuer zu suchen. Und das war in den vergangenen Monaten nun wirklich kein Leichtes. Viele Kinder und Jugendliche verbrachten ihre Freizeit vor Bildschirmen. Aber was machen Jungs im Alter von 9 bis 13 Jahren da am liebsten? Natürlich Computerspiele zocken! Eines der wohl beliebtesten Games in dieser Altersklasse ist Minecraft, ein Spiel, bei dem die Fantasie angeregt wird. In einer offen gestalteten Welt können die Gamer ihre Umgebung selbst konstruieren, Dinge aufbauen und ihre Kreativität beim sogenannten „craften“ – zu Deutsch „basteln“ – nach Herzenslust ausleben.
Minecraft in Real als Abenteuerwochenende in Thüringen
Sven Ramdohr, Schulsozialarbeiter in Erfurt und Vorstandsmitglied des Vereins Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Jugend- und Männerarbeit, weiß um die Anziehungskraft von Minecraft. Der Vater von vier Kindern hat das Spiel selbst getestet, denn „schließlich sollten Eltern wissen, was ihre Kinder vor den Bildschirmen spielen. Ich habe selbst zwei Jungs im Alter von 13 und 16 Jahren. Da ist Minecraft seit Jahren Thema.“
Auf der Dörrkopfwiese oberhalb der Lütschetalsperre
Dieses Wissen um die Leidenschaften junger Computerspielfans macht sich der Schulsozialarbeiter nun zunutze und holt am kommenden Wochenende Minecraft in die Realität. Von Freitag, 24. Juni, bis Sonntag, 26. Juni, ist Sven gemeinsam mit zwei weiteren Pädagogen, zwei Teamern und insgesamt 20 Jungs auf der Dörrkopfwiese oberhalb der Lütschetalsperre südwestlich von Erfurt unterwegs, um ein „Jungenwochenende rund ums Craften und Entdecken“ zu erleben. „Minecraft Real“ heißt die Jugendfreizeit, die sich an Jungs aus ganz Thüringen richtet und zum Abenteuer einlädt.
Wie im Computerspiel ist am kommenden Wochenende ein Lagerplatz zu bauen, Nahrung zu beschaffen, sind Talente zu entdecken und Fähigkeiten zu erlangen. Es wird geplant, konstruiert, abgestimmt und gecraftet. Konflikte sind zu lösen und fremde Perspektiven müssen eingenommen werden. Die Jungs müssen sich in verschiedenen Spielen durchsetzen und zugleich Kompromisse eingehen. Viele Herausforderungen sind zu meistern, laut Sven geht es aber vor allem immer um Freundschaft und Zusammenhalt.
Biwak errichten und ins Abenteuer starten
Startpunkt ist am Freitag der Bahnhof in Dörrberg. Von dort geht es zu Fuß viereinhalb Kilometer durch die Natur zur Dörrkopfwiese. Wo die jungen Teilnehmer ihr Biwak errichten und ins Abenteuer starten. Bis Sonntagmittag wartet die Jugendfreizeit mit den verschiedensten Programmpunkten auf. Über allem schwebt das Thema Minecraft. Bei Programmpunkten wie „Crafting Time“ oder „Auf in den Nether“ wird das Computerspiel immer wieder eingebaut. „Dabei geht es darum, Dinge zu bauen, die auch im Spiel vorkommen“, erklärt Sven. „Beispielsweise bauen wir mit den Ressourcen, die uns die Natur vorgibt, Pfeil und Bogen oder eine Axt.“
Programm mit ganz feministischen Ansätzen
In Teams unterteilt, werden diese selbst gebauten Werkzeuge im Geländespiel erprobt. Die Jungs müssen ein Lagerfeuer „craften“, Wasser von einer Quelle herbeischaffen und viele weitere Abenteuer in der Gemeinschaft bestreiten. Durch die Reduktion auf das Lebensnotwendigste und die Herausforderung, im Team gemeinsam Aufgaben zu bewältigen, lernen die jungen Teilnehmer Selbstständigkeit sowie Teamfähigkeit. Und auch wenn das Wochenendabenteuer speziell für Jungen konzipiert ist, kommt das Programm mit ganz feministischen Ansätzen daher. Denn mit dem Jungenwochenende, bei dem das Abenteuer klar im Vordergrund steht, wird von Sven und seinen Pädagogenkollegen ganz gezielt die Idee von Männlichkeit hinterfragt. „Dabei geht es nicht darum, dass Jungs nicht Jungs sein sollen. Es geht darum, Geschlechterrollen zu hinterfragen, alte Strukturen aufzubrechen und den Blick zu weiten“, erklärt der Sozialarbeiter. „Wir fungieren da ganz klar als Vorbilder. Die Jungs lernen am Modell, dass Zugänglichkeit und Offenheit keine Schwäche ist.“
Laut Sven gibt es zwischen den Programmpunkten immer wieder Gesprächsrunden, in denen das Erlebte reflektiert wird. Die Themen der jungen Teilnehmer werden besprochen und nebenbei alltägliche Stereotypen hinterfragt. „Zum Beispiel bringen die Jungs Videospielthemen mit und wir fragen dann nach ihren weiblichen Computerspielhelden“, sagt Sven und betont, dass ganz gezielt Gefühle abgefragt werden. „Bei der Nachtwanderung sprechen wir das Thema Angst an und versuchen weiterhin Themen wie: Jungs dürfen nicht weinen oder Indianer kennen keinen Schmerz zu hinterfragen.“ Dabei betont der Sozialarbeiter, dass Schutzräume geschaffen werden, in denen die Pädagogen positiv motivieren und die Jungs animieren, sich von Gedanken wie „ich muss zeigen, wie cool ich bin“ freizumachen.
Suche nach der eigenen Identität
Bis Sonntag um 12 Uhr tauchen die jungen Teilnehmer in eine Abenteuerwelt ab, die ganz andere Zugänge zum eigenen Ich bietet als der Alltag. Dabei sollen Jungs ganz natürlich erleben, was Jungs ausmacht. „Sie suchen nach der eigenen Identität, sie möchten ihre Spielräume erweitern, sie verankern sich in ihrer je geschlechtlichen Realität. Sie diskutieren: Welchen Stellenwert soll das Junge-Sein, das Mann-Sein in der Gesellschaft haben?“ Bei dieser Auseinandersetzung unterstützt sie Sven gemeinsam mit seinen Pädagogenkollegen und machet so Mut zu neuen Erfahrungen.
Stärkung der genderbezogenen Männerarbeit
Seit zehn Jahren findet das Jungenwochenende der LAG Jugend- und Männerarbeit jährlich statt, zuletzt 2018. Auch 2023 und in den Folgejahren soll das Programm wieder aufleben, doch das stellt sich laut Sven nicht so einfach dar. Es fehle an Raum und einer Fachkraft für die Koordinierung des Thüringer Vereins, der schon seit längeren versucht, eine Stelle zur Stärkung der genderbezogenen Männerarbeit zu etablieren. Dies sei jedoch schwierig, weil das Thema aktuell nicht „en vogue“ sei. „Unser Anliegen ist oft nicht so einfach zu erklären“, so der Sozialarbeiter, der mit seinem Engagement Geschlechtergrenzen aufweichen will und durch positive Motivation toxische Männlichkeit zu überwinden versucht.
Zwischenmenschliche Fähigkeiten fördern
Sven traf mit seiner Idee, Minecraft in die Realität zu holen, den Nerv der Zeit. Unzählige Anmeldungen kamen für die 20 Teilnehmerplätze rein. Das Jungenwochenende war schnell ausgebucht. „Sogar die Presse meldete sich deshalb“, sagt er schmunzelnd und fügt an: „Wir wollen die zwischenmenschlichen Fähigkeiten fördern. Über das Tun kommen wir mit unseren Projekten zum Reden. Jungs müssen machen. Und bei Aktivitäten wie dem Minecraft-Wochenende setzen sie sich mit Vorstellungen, Mustern und Rollen auseinander, mit Klischees und Notwendigkeiten. Sie lernen zuzuhören, sich und ihre Umwelt besser wahrzunehmen …“
Hard Facts:
- Mehr zum Thema: www.jungenarbeit-thueringen.de