Wolf Biermann, der bald 90-jährige Liedermacher, ist bekannt für seine tiefgründigen und umfassenden Antworten, die weit über die gestellten Fragen hinausgehen. Seine Gedanken schweifen durch Raum und Zeit, greifen Themen der Menschheit auf und kehren als vielschichtige Reflexionen zurück. Diese Herangehensweise spiegelt sich auch in seinen Liedern wider, die poetische Fragen nach einem besseren Leben stellen. Seine Texte, geprägt von Lebenserfahrung, Zorn und Kompromisslosigkeit, sind Zeugnisse des 20. und 21. Jahrhunderts. Biermanns Werk, das über 300 Stücke umfasst, macht Geschichte auf einzigartige Weise spürbar und zeigt die Relevanz seiner Themen bis in die Gegenwart.
Neues Wolf Biemann Album
Ein neues Coverprojekt, angestoßen von Biermanns Frau Pamela und umgesetzt unter der Leitung von Produzent Johann Scheerer, soll Biermanns Lieder einer jüngeren Generation näherbringen. Namhafte Künstler wie Wolfgang Niedecken, Ina Müller, Alligatoah und Meret Becker interpretieren seine Stücke neu und verleihen ihnen frische Perspektiven. Das Ziel ist, Biermanns Werk losgelöst von seiner politischen Geschichte neu zu betrachten und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die Vielseitigkeit der Interpretationen zeigt, wie aktuell und anpassungsfähig seine Lieder sind. Wir sprachen mit Johann Scheerer über das Album „Wolf Biermann RE:IMAGINED – Lieder für jetzt!“, das am 15. November erscheint.
Inwiefern hat Pamela Biermann das Projekt RE:IMAGINED angestoßen und wie entstand die Idee, ein Coveralbum mit Liedern von Wolf Biermann zu produzieren?
Pamela Biermann hat mich eines Tages angerufen. Ich glaube, sie kannte mich als Musikproduzenten und hatte die Idee, etwas in der Art eines „Samplers“ mit den Liedern ihres Mannes umzusetzen. Sie fragte mich, ob ich Interesse hätte, einen solchen Sampler zusammenzustellen. Zu dem Zeitpunkt war mir jedoch nicht ganz klar, was genau sie meinte – und ich glaube, ihr ging es ähnlich.
Im Gespräch vertieften wir uns dann schnell in die inhaltlichen Details und kamen überein, keinen klassischen Sampler zu machen. Denn ein Sampler bedeutet, bestehendes Material zu kompilieren. Stattdessen wollten wir gezielt Musiker:innen auswählen, um mit ihnen ein Cover-Projekt auf die Beine zu stellen. Das Ziel: Biermanns Werke einer jüngeren Generation zugänglich zu machen – auf eine möglichst niedrigschwellige Art.
Was heißt niedrigschwellig?
Ich bin jetzt bald 42 Jahre alt und kannte Biermanns Werke bislang nur in Ausschnitten, nicht im Detail. Inhaltlich fand ich vieles von dem, was er sagt, bemerkenswert. Doch die Art seines Vortrags, sehr laut, sehr maskulin und manchmal etwas sperrig, war für mich teils eine Hürde, die mir den Hörgenuss erschwert hat. Als Pamela Biermann mir von ihrer Idee erzählte, habe ich mich deshalb gefreut, denn das war eine großartige Gelegenheit, Biermanns Werke so zu hören, wie ich sie mir vorstellen könnte – ein bisschen zugänglicher.
Mein Ziel ist es dabei nicht, den Mainstream-Geschmack zu bedienen, sondern einen klaren künstlerischen Ausdruck zu schaffen. Die Herausforderung bestand infolge darin, interessante und anspruchsvolle Künstler:innen einzuladen, Biermanns Stücke in ihrem eigenen Stil zu interpretieren. Die Texte sollten erhalten bleiben, ebenso ein Großteil der Melodien, aber die Umsetzung sollte nicht im typischen Biermann-Stil geschehen, sondern in der individuellen Handschrift der Interpret:innen.
Die Auswahl der Künstler auf dem Album reicht von Hip-Hop-Künstlern wie Alligatoah bis hin zu Chanson-Sängerinnen wie Annett Louisan. Wie hast du die Interpreten ausgewählt und wie haben die Künstler:innen reagiert?
Die Auswahl bestand aus einer romantischen Idee, gepaart mit der Realität. Steve Jobs sagte einst, wer glaubt, Entrepreneurship heißt einfach nur gute Ideen haben, der hat keine Ahnung. Von der guten Idee bleiben, wenn sich alle ins Zeug legen, nur zehn Prozent über. Der Rest ist Realität, die einem dauernd in die Quere kommt. So war es auch bei diesem Projekt. Wir hatten ein festes Timing, ein begrenztes Budget und eine klare Vorstellung der Künstler:innen, die wir dabei haben wollten. Wir fragten viele an. 22 sagten zu. Viele konnten aus Zeitgründen nicht.
Mir war es als Produzent wichtig, eine unerwartete Platte zu schaffen, denn Biermann selbst war in allem, was er tat, oft unerwartet und dabei stets authentisch. Genau diese Qualität wollte ich auch auf dem Album zur Geltung bringen: es sollte einige Überraschungsmomente besitzen. Das zeigt sich etwa darin, dass auf dem Album Ina Müller und Annett Louisan neben Das Bierbeben, Van Holzen und Haiyti vertreten sind. So kann meine Mutter das Album hören, einige Stücke mögen und von anderen überrascht sein – und meinen Freunden wird es genauso gehen.
Wie haben die Künstler:innen auf Biermann reagiert? Er macht ja keine Musik, die einem im normalen Pop-Geschäft über den Weg läuft.
Viele der beteiligten Künstler:innen kannten Wolf Biermann durch ihre Eltern oder hatten familiäre Verbindungen, die den Bezug zu seiner Musik stärkten – sei es, weil sie aus dem Osten Deutschlands stammen oder enge Familienmitglieder Berührungspunkte mit Biermanns Werk hatten. Die häufigste Reaktion war: „Ich bin sofort dabei; ich kenne das von meiner Mutter“ oder „Mein Vater hat das zu Hause gehört.“ Einige reagierten jedoch zunächst zurückhaltend und sagten: „Das sagt mir nicht viel, ich weiß, Biermann ist relevant, aber ich kann mit seiner Art nichts anfangen.“ Manche waren sehr empfindsam aufgrund des bereits erwähnten maskulinen Vortrags von Wolf Biermann. In solchen Fällen habe ich klargemacht: Das muss nicht kopiert werden; das Projekt bietet die Chance, sich rein auf die Inhalte zu konzentrieren. Wer die Botschaft von Biermann schätzt, kann hier einen Beitrag dazu leisten, seine Werke einer jüngeren Generation nahezubringen – ganz ohne diese teilweise als „mackerhaft“ empfundene Attitüde.
Genau das hat funktioniert: So hat sich Moritz Krämer etwa das Stück „Fallen die Blätter der Rose“ ausgesucht und es auf seine sehr eigene, unverwechselbare Weise interpretiert. Auch Das Bierbeben, bekannt für ihre kritischen und politischen Positionen, hat das Stück, das sie gewählt haben, sehr überlegt umgesetzt. Der kreative Austausch, besonders mit jenen, die anfangs unsicher waren, war ehrlich gesagt der Teil, der am meisten Freude gemacht hat.
Die Lieder und Inhalte von Wolf Biermann sind tief in der Geschichte der DDR verwurzelt. Bist du der Meinung, das Biermanns Musik heute noch relevant ist und auch, das sie unbedingt eine jüngere Generation erreichen muss?
Ich sehe das völlig anders. Zwar wird Biermann oft in der Geschichte der DDR verortet, doch er hat dort nicht sein ganzes Leben verbracht. Wenn ich mir seine Texte und einzelne Zitate anschaue, ist ihre Relevanz deutlich jenseits eines DDR- oder politischen Kontextes.
Sätze wie „Wie nah sind uns manche Tote, doch wie tot sind uns manche, die leben“ sprechen für eine zeitlose Qualität. Auch „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ könnte ich meinen Teenagersöhnen in jeder dritten Unterhaltung mitgeben. Oder auch Musiker:innen, die sich fragen, ob sie immer das Gleiche tun müssen, um authentisch zu wirken. Die Vorstellung, dass man, um sich treu zu bleiben, alles unverändert lassen muss, ignoriert, dass sich die Lebensumstände ständig ändern. Die wahre Kunst liegt darin, sich selbst treu zu bleiben und zugleich auf äußere Veränderungen zu reagieren. Und das hat Biermann in einem einzigen Satz prägnant ausgedrückt.
Meinst du, das Album kann einen Beitrag zur heutigen gesellschaftlichen Diskussion leisten?
Ganz so vermessen bin ich nicht. Dass das Album einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte leistet, glaube ich nicht. So etwas lässt sich nicht vorhersagen, und vermutlich funktioniert es auch nicht so. Natürlich wird man über das Album, das Projekt und damit über Biermanns Inhalte öffentlich sprechen. Ein Album, an dem man ein bis zwei Jahre arbeitet und das entsprechend durchdacht ist, bietet dafür einen guten Ansatzpunkt. Ich hoffe, dass es ein Anlass für eine intensive Auseinandersetzung wird. Ob das Album selbst dazu taugt, weiß ich nicht. So ist es mit Kunst: Man bringt sie in die Welt, die Leute reden darüber – und dann wird sich zeigen, was daraus entsteht.
Wie lief das mit den Künstler:innen? Hast du ihnen Lieder vorgeschlagen, haben sie die Texte selbst ausgesucht? Waren sie sehr wählerisch?
Mit Künstler:innen zu arbeiten ist eine Kunst für sich. Dafür gibt es keinen festen Fahrplan. Jede Unterhaltung verlief anders. Einige Künstler:innen wussten genau, welches Stück sie umsetzen wollten. Manchmal war die Entscheidung so klar, dass zwei Titel doppelt vertreten sind, weil bestimmte Stücke einfach starke Resonanz ausgelöst haben. Und das war dann auch völlig in Ordnung. Andere fragten uns, ob wir Vorschläge machen könnten, da der Katalog so groß ist. Dem sind wir gern nachgekommen.
Nur in einem Punkt habe ich eingegriffen: Ich wollte sicherstellen, dass ein dezenter roter Faden das Album durchzieht und es nicht zu üppig wirkt. Kitsch oder ein großes Arrangement mit Orchester und Big Band waren nicht das Ziel. Biermann selbst war nie in einem Tonstudio. Er nahm seine Musik immer zu Hause auf, was seinem Werk eine besondere Intimität verleiht. Diese Atmosphäre wollte ich beibehalten, weil sie perfekt zu seinen Inhalten passt und zum Zuhören einlädt. Die Grundlinie war also: gerne nur ein Instrument und Gesang; alles Weitere blieb den Künstler:innen überlassen. Aber mehr brauchte es nicht.
Du sagtest, Wolf Biermann war auch bei dir im Studio.
Ich glaube, Wolf steht mit seinen jetzt bald 88 Jahren so stabil im Leben, dass ihn so ein Projekt nicht erschüttern kann. Sein großes Ego ist dabei hilfreich, weil es ihm hilft, zu ertragen, dass Künstler:innen seine Songs teilweise völlig frei interpretieren. Bei einigen Stücken auf dem Album hat er mir später sogar gesagt, er findet, dass sie es besser gemacht haben als er.
Ich las, du hast die Rechte an Wolf Biermanns gesamten Werken erworben, um sein musikalisches Erbe zu pflegen. Was planst Du, über das Album hinaus mit den Werken?
Ich habe nicht als Produzent die Rechte erworben, sondern verlege als Musikverleger mit meinem Musikverlag „Clouds Hill“ die Urheberrechte von Wolf Biermann. Wir setzen uns engagiert dafür ein, seinen Katalog zu pflegen – unter anderem mit diesem Coverprojekt. Zudem planen wir einzelne Neuauflagen seiner bedeutendsten Alben. Am 13. November organisieren wir zum Beispiel einen großen Musikabend im Hamburger Thalia Theater, bei dem 13 der 22 beteiligten Künstler:innen und Bands live auftreten und ihre Interpretationen performen werden. Alles Weitere wird sich zeigen …
Eine Tour ist da recht unwahrscheinlich mit so vielen Künstler:innen?
Ich sage es dir, wie es ist: An diesem Abend verdienen wir keinen Cent, denn wir bezahlen die Bands, die Musiker:innen, die Location und mehr. Außerdem wollten wir nicht, dass die Tickets 400 Euro kosten. Es soll ein schöner Abend für alle werden, und ich hoffe, dass alle Beteiligten am Ende mit einem Lächeln nach Hause gehen. Aber so ein Event kann man nicht öfter als einmal machen.
Was meinst du, warum werden Wolf Biermanns Texte nie an Relevanz verlieren und warum ist es wichtig, sich sein Werk mal zu Gemüte zu führen?
Wolf Biermann gehört 2024 zu der aus der Mode gekommen Gattung „alter weißer Mann“. Das ist ein harter Stempel für jemanden, der eine über 60 Jahre währende Karriere hingelegt hat und immer noch bestreitet. Seine Texte waren vor 60 Jahren sehr relevant, die Texte waren vor 40 Jahren relevant, die Texte waren vor 20 Jahren relevant, vor 10 Jahren und sind es heute ebenso. Ich glaube, jedem und jeder tut es gut, vorbehaltlos da ranzugehen. Es gibt einen Grund, wieso sich dieser Mann über ein halbes Jahrhundert in der Kulturbranche so prominent hält.
Hard Facts:
- Album „RE:IMAGINED – Lieder für jetzt!“ erscheint am 15. November
- Am 13. November habt ihr das erste und letzte Mal die Möglichkeit eine Vielzahl der Künstler:innen im
Hamburger Thalia Theater zu erleben. - Weitere Infos: www.wolf-biermann.de