Der Schock sitzt noch immer tief. Nicht nur bei Kaja. Zum Ende des Jahres muss sie aus ihren Räumlichkeiten ausziehen. Der Grund: Mietvertrag gekündigt. Für die Chefin der Artue-Galerie kam diese Entscheidung unerwartet. Sie wird ihre Räumlichkeiten, die sie mit viel Engagement über 12 Jahre geführt hat, an einem anderen Ort fortsetzen müssen. „Seitdem ich keine Hosen mehr anhabe, ist alles anders“, sagt Kaja, die sich 2019 öffentlich als Transfrau bekannte. Oder besser gesagt: nach vielen Jahren zu sich fand.
Nach ihrem Outing hat sich ihr Leben und ihre Arbeit in der Galerie auf vielfältige Weise verändert. Sie ist nicht nur kultur-politisch aktiver geworden, sondern bietet in ihren Räumen in der Erfurter Geschwister-Scholl-Straße auch einen Safe-Space für lesbische Frauen und FLINTA*-Personen an. Mit Blick auf die plötzliche Kündigung betont Kaja, dass es ihr wichtig ist, kein böses Blut zu vergießen und die Situation mit Respekt zu betrachten, denn sie möchte den Blick nach vorne richten und mit ihrer Galerie weiterhin einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Vielfalt leisten.
Dabei ist es wahrlich tragisch, dass ein Ort wie die Artue-Galerie aufgrund von nebulösen Gründen beerdigt werden muss. Denn Kaja hat sich in der künstlerisch/queeren Erfurter Szene derart engagiert, dass sie nicht wegdenkbar erscheint. Die Ü60-Jährige ist nicht nur Künstlerin, Galerie-Chefin, Kuratorin und Kunstlehrerin. Sie ist Kummerkasten, Zuhörerin, Obdachgeberin, Aktivistin, Supporterin und ganz oft einfach Freundin. Weshalb sich nicht nur die Erfurterin – die wohlgemerkt alles mit ihrer stets empowernden und lebensbejahenden Art weglächelt – bestürzt zeigt, wenn es um das Ende ihrer Galerie in Erfurt geht.
All die Menschen, die Kaja in den vergangenen Jahren ihren Ausstellungsräumen besuchten, die Teil des FLINTA-Kosmos sind, der dort eine Heimat gefunden hat, wollen das Aus der Artue-Galerie nur schwerlich akzeptieren. Denn der Ort ist nicht nur ein Save-Space, so die Künstlerin: „Die Galerie hat sich zum Ort des zivilgesellschaftlichen Austausches und der Beteiligung entwickelt. Zur Heimat für ein buntes Netzwerk an lieben Menschen, dass es so in Erfurt nicht noch einmal gibt.“
Seit 2012 hat sich die Galerie sukzessiv zum Ort für ältere Queers und Flintas entwickelt. Es wurde in den vergangenen 12 Jahren viel Zeit, Geld und Herzblut investiert: „Der Ort bedeutet mein Leben für mich“, erklärt Kaja, die nach Corona regelmäßige Frauen- und Lesbentreffs organisierte, feministische Mal-Events, lockere FLINTA-Get-togethers und mehr. Mit dem Wegbruch der Artue-Galerie verliert die Krämpfervorstadt in Erfurt einen wichtigen Ort, der für Vielfalt, Respekt und Kreativität steht.
Doch die letzte Messe ist noch nicht gelesen. Zwar muss sie an Silvester 2024 ausziehen, doch Kaja ist bereits auf der Suche nach neuen Räumlichkeiten, die ab 2025 von ihr und ihrem Netzwerk mit Leben gefüllt werden. Wir sprachen aus diesem Grund mit drei Frauen, die aus verschiedenen Perspektiven hoffentlich einen Nachruf auf die Artue-Galerie zum Besten geben. Charlotte, Silvana und Claudia könnten unterschiedlicher nicht sein und haben sich über die Jahre zu Galerie-Sympathisantinnen und Freundinnen von Kaja entwickelt. Sie würden nicht nur eine Lanze für sie brechen.
Die artue-Galerie ist Erfurts kreativster FLINTA*-Safe-Space
Charlotte, seit wann kennst du Kaja und den Ort?
Charlotte: Seit zwei Jahren. Wir wohnen seit vier Jahren in der Gegend und sind oft vorbeigelaufen, aber nie reingegangen. Vor zwei Jahren im Sommer standen wir vor der Tür, schauten uns die Bilder an, und Kaja öffnete die Tür. Sie lud uns ein und erzählte, was hier los ist und was sie macht. So kamen wir zum FLINTA-Treffen.
Was bedeutet die Artue-Galerie für dich?
Charlotte: Sie ist ein Ort, um neue Leute kennenzulernen und Freundschaften zu pflegen. Man trifft sich hier regelmäßig oder aus Eigeninitiative, um zu feiern und sich auszutauschen.
Wie sieht es auf der persönlichen Ebene aus?
Charlotte: Kaja hat meinen Horizont erweitert. Hier lernte ich andere Lebensformen und Generationen kennen. Ich bin schon ein älteres Semester und hierher kommen sowohl junge Leute als auch ältere. Das ist für mich sehr bereichernd. Man tauscht sich über unterschiedliche Lebenserfahrungen und Horizonte aus. Kaja ist dabei im positivsten Sinne die Mutti. Sie ist der Anlaufpunkt. Durch ihre Art schafft sie ein einzigartiges Umfeld. Heißt, dass sie sich schnell öffnet und von sich erzählt. So kommt man gut ins Gespräch.
Wie hast du hier Kunst wahrgenommen und kennengelernt?
Charlotte: Für mich spielt Kunst nicht die vordergründige Rolle. Ohne Kunst gäbe es den Ort nicht. Sie öffnet neue Zugänge. Bei den Ausstellungen kommt ein anderes Publikum, man lernt neue Leute kennen. Kajas Vernetzung in andere Szenen bereichert das Ganze und sorgt für neue Verbindungen, die ich sonst nicht hätte.
Was würde für dich fehlen, wenn es die Artue-Galerie nicht mehr gibt?
Charlotte: Der Anlaufpunkt, der fest und gleichzeitig offen für neue Leute und Gesichter ist. Man trifft sich zwar auch privat, aber das ist nicht so leicht zugänglich für Fremde, die einen Anlaufpunkt suchen. Viele suchen genau das und würden ins Leere laufen, wenn es die Galerie nicht mehr gibt.
Silvana, woher kennst du Kaja und seit wann?
Silvana: Ich kenne Kaja seit Anfang 2013. Ich wohne in ihrer Nähe und ging eines Tages vorbei, als dort bunte Bilder im Schaufenster hingen. Vorher war da eine Zahnarztpraxis. Ich ging rein, traf Kaja und wir kamen ins Gespräch, da ich auch male. Kaja wollte sofort meine Bilder sehen und schlug vor, etwas zusammen zu machen. So wurde ich Stammgast und stellte regelmäßig aus. Kaja unterstützte mich von Anfang an und ich war bei jeder Veranstaltung dabei, von der Auftaktveranstaltung bis zum Tag der offenen Tür. Ich bin sozusagen ein Urgestein der Galerie.
Was bedeutet der Ort für dich?
Silvana: Es ist ein zweites Zuhause. Ich sagte Kaja oft, dass sie meine Busenfreundin ist, da meine andere beste Freundin weit weg in Gera wohnt. Wir trinken alle paar Tage Kaffee und unterhalten uns. Der Ort spricht mich an, ich bin umgeben von Kunst und fühle mich wohl. Es ist eine tolle Location mit tollen Menschen. Es kommen Leute von überall her. Im Sommer sitzen wir draußen, im Winter drinnen bei Glühwein. Es ist immer wie ein zweites Zuhause.
Was bedeutet es für dich, dass es hier einen Kulturort gibt, wo man Kunst leben kann, besonders als Künstlerin?
Silvana: Als Hobbykünstlerin ist es schwer, Fuß zu fassen. Auf der Krämerbrücke kommen nur Hauptberufliche rein. Kaja gibt auch anderen eine Chance, was toll ist. Das muss wertgeschätzt und anerkannt werden. Hier bekommen auch Leute wie ich eine Chance. Zudem bringt die Galerie Leben in die Straße. Die Arztpraxis gegenüber und die geschlossene Gaststätte bieten das nicht.
Wäre es schade, wenn die Galerie wegfällt?
Silvana: Auf alle Fälle. In der Nähe gibt es kaum Kulturangebote. Wir sind nicht in Berlin. Artue ist zudem eine Plattform für mich als Künstlerin. Wenn solch ein toller Ort verschwindet, geht wirklich etwas verloren.
Claudia, woher kennst du Kaja und seit wann?
Claudia: Im Herbst 2022 fand Kultur flaniert statt, und ich bin mit meinen Freundinnen hier reingestolpert. Obwohl ich schon immer in der Krämpfervorstadt wohne, ist mir dieser Ort nie aufgefallen, weil ich immer andere Wege gegangen bin. Die Mädels, die in der Geschwister-Scholl-Straße wohnen, haben gesagt, wir müssen hierher. So sind wir zu fünft einmarschiert und nie wieder gegangen.
Wie hast du denn Ort damals wahrgenommen?
Claudia: Es war herzlich und ich fühlte mich sofort wie zuhause. Seitdem passen Kaja und ich perfekt zusammen. Wir scherzen oft, dass wir einen Gentest machen sollten, um zu sehen, ob wir verwandt sind. Ich meine es ernst, wenn ich sage, dass ich seitdem immer hier bin. Ich habe meinen Arbeitsweg verlegt und komme nach der Arbeit erst hierher, sitze eine halbe Stunde und gehe dann heim. Viele, die herkommen, fühlen sich sofort willkommen und akzeptiert. Es herrscht eine offene, herzliche Atmosphäre ohne Druck. Man kann hier sein, wer man ist. Entweder man bleibt oder kommt nie wieder, und das ist völlig in Ordnung. Diese Atmosphäre ermöglicht es vielen, sich sofort zu öffnen und ihre Geschichten zu teilen. Es ist nicht nur Kultur oder FLINTA, es ist mehr. Das macht es wertvoll.
Hast du in Erfurt einen ähnlichen Ort gehabt?
Claudia: Auf gar keinen Fall. Im häuslichen Setting mit Freundinnen natürlich, aber nie in einem öffentlichen. Ich habe hier viele enge Freundinnen gefunden, und auch die Mädels, mit denen ich hierhergekommen bin, haben neue Freunde gefunden. Das Netzwerk hat sich extrem erweitert. Ich habe viele Nachbar:innen kennengelernt, die mir sonst nie aufgefallen wären. Durch das draußen Sitzen kennt man sich, grüßt sich und ist freundlich. Es ist wie früher. Nicht mehr so anonym. Das schätze ich sehr.
Hat Kaja auch dir Kunst nähergebracht?
Claudia: Ich nahm an einem lustigen Malkurs teil, der damit endete, dass ich Kaja anschrie, weil ich nicht so wollte wie sie (lacht). Ich bin bei sowas sehr engstirnig und eine schlechte Schülerin, deshalb beendeten wir den Kurs. Kreativität liegt mir eigentlich, aber ich habe das im Alltag jahrelang vernachlässigt. Hier finde ich ab und zu Raum dafür und bin durch das Hiersein wieder inspiriert, kreativ zu sein.
Warum ist es wichtig, dass Kaja jetzt einen neuen Ort findet?
Claudia: Das Miteinander, besonders im queeren Bereich, würde sonst erlöschen. Wir, die regelmäßig zum FLINTA-Stammtisch kommen, haben eine Bindung zueinander und werden uns nicht verlieren. Aber für diejenigen, die nur gelegentlich kommen oder einfach zuschauen, bricht viel weg. Es gibt hier kaum eine queere Szene. Junge Menschen leben und wachsen anders auf, aber ab 35 sind anders sozialisiert und identifizieren uns anders. Hier finden viele zum ersten Mal einen Safe-Space und fühlen sich wohl. Besonders in Lesbenkreisen, wo viele in Familien leben und nicht vernetzt sind, löst sich das hier auf und man kommt zusammen. Klar gibt es Angebote vom Queeren Zentrum und der Brennnessel, aber das nehme ich oft als Beratungsräume wahr. Hier fühlt es sich wie Freizeit an.
Ihr wollt Kaja und ihrem Netzwerk, ihrer Kunst einen Raum geben? Dann meldet euch bei ihr unter: wri@me.com.
Hard Facts:
- Finissage Artue Galerie: 5. Oktober | ab 15 Uhr
- Wo? Geschwister-Scholl Str 64 | Erfurt
- Mehr bei Instagram: @artue_galerie