Erfurt, November 2023 – In der städtischen Hektik und dem ständigen Fortschritt finden viele Menschen Ruhe und Inspiration in der Natur. Das Wissen darüber geht aber immer mehr verloren. Christine Rauch ist nicht nur Expertin, wenn es um die Kräfte der Wildkräuter geht, sondern teilt auch ihre Leidenschaft und ihr Wissen mit anderen in den Sozialen Medien und ging mit ihren witzigen und informativen Inhalten viral. Unsere Autorin Franziska Waldner besuchte die Kräuter-Influencerin aus Erfurt in ihrem liebsten Umfeld – der freien Natur.
Kräuter-Influencerin aus Erfurt
Ich treffe Christine an einem windigen, aber sonnigen Herbsttag. „Ich hab‘ meinen USB-Mixer dabei, dann machen wir uns erst mal einen Brennnesselsmoothie“, begrüßt mich Christine Rauch gut gelaunt. An der Pförtchenbrücke in der Erfurter Brühlervorstadt schlagen wir uns durch die Büsche ans Flussufer. Uns erwartet ein Brennnesselfeld, die Blätter an den Pflanzen sind ungewöhnlich groß. Das Interview wird abenteuerlicher als gedacht.
Alternative Gewürze
„Die wachsen so stark, weil sie hier so gut versorgt sind. Alles frisch. Und dann gibt es hier auch noch Knoblauchsrauke, die kann man als Knoblauchersatz nehmen. Zum Beispiel wenn man eine Allergie hat. Ab an den Quark oder den Joghurt. Man kann vom Blatt bis zur Wurzel, die übrigens lila ist und in Aufstrichen echt cool aussieht, die ganze Pflanze nutzen. ‚from top zu tail‘ sagen wir dazu. Oh, und hier: Nelkenwurz. Schmeckt nach nichts, ist aber gesund.“
So unterschiedlich können die Wahrnehmungen sein, abhängig vom jeweiligen Wissensstatus. Ich sehe nur Unkraut, Christine aber ein Buffet an Wildkräutern, für das man im BioMarkt viel Geld ausgibt.
„Dann hauen wir mal in die Brennnesseln“, spricht Christine und greift beherzt in die Blätter. Mir brennt die Hand schon vom Zuschauen. „Der Trick ist, die Blätter von oben anzufassen, sie zweimal jeweils in der Hälfte zu falten. Die Brennhaare sind unten am Blatt.“ Theoretisch könne man das gefaltete Blatt nun einfach in den Mund stecken und wie einen Kaugummi kauen. Die feinen Blätter oben haben dagegen Salatqualität. „Die Brennnessel ist eine Faserpflanze. Man hat sie zu Kleidung verarbeitet, bevor die Baumwollindustrie groß wurde. Nachhaltige Designer interessieren sich jetzt wieder für den Rohstoff. Zumal man mit diesen zudem färben kann“, erklärt die Erfurterin und fügt an: „Ganz schöner Underdog. Diese Nessel. Denke ich.“ Die Blätter landen in der Smoothie-Basis aus Apfel, Zitrone (damit das Getränk nicht oxidiert) und Dattelsüße. Mit der Brennnessel sind nun auch viele Mineralien und bioverfügbares Eisen enthalten. „Auf die Gesundheit“, prostet mir Christine zu.
Infotainment als Survival Siglinde bei Instagram
Ihre Energie ist beneidenswert und erinnert mich unweigerlich an ihre Kunstfigur „Survival Siglinde“, durch die sie bei Instagram auf ihrem Kanal „Wildrausch“ in humorvollen Videos über Wildkräuter- und Pflanzen aufklärt. Den Anstoß dazu gab eine Woche mit einer Schülerpraktikantin. Christine suchte schon einige Zeit nach einem geeigneten Format. Irgendetwas anderes. „Normale“ Erklärvideos, Online-Workshops und Postings gibt es bereits viele. Der lockerere Umgangston in den gemeinsamen Videos und die daraus entstandenen Outtakes brachten die Idee: irgendwas Witziges mit Wildpflanzen in die Welt zu bringen. Infotainment eben. Gesagt, getan.
„Jedem, dem ich unsere Videos danach zeigte, meinte: Das bist so du! Siglinde steckte anscheinend immer schon in mir.“ In schnodderigem Dialekt mit sehr ernstem Gesicht sagt sie darin zum Beispiel: „Isch bin Survival Siglinde und isch teste heute für dich den Gundermann. Das is kee Typ, das is ä Blatt und soll gegen Mundgeruch helfen.“ Das Video geht viral. 61.600 Likes, fast 1.000 Kommentare, 3,3 Millionen Aufrufe zum Zeitpunkt unseres Gesprächs. Für ein Video über ein Wildkraut namens Gundermann. Das muss ihr erst einmal jemand nachmachen. Mittlerweile folgen ihr fast 42.000 Menschen auf Instagram.
Bildung rund um Pflanzen
Bei allem Humor bleibt die Bildung nicht auf der Strecke. 2018 machte die studierte Diplom-Betriebswirtin ihre Fachberater-Ausbildung für essbare Wildpflanzen, gründete 2019 die Firma „Wildrausch“ und stieg während der Buga 2021 mit verschiedensten Konzepten noch tiefer in die wilden Themen ein. Sie lehrte im „Grünen Klassenzimmer“ tausenden Kindern, wie man Unkraut von Nutzkraut unterscheidet und was man damit machen kann. Gab Kurse für Menschen mit Behinderungen, entwickelte Produkte, die ihr zur Bundesgartenschau aus den Händen gerissen wurden. Gierschkräcker in Rohkostqualität, Fruchtleder, Brunnenkresse-Pesto oder Brunnenkresse-Gierschsalz.
Produkte und Workshops
Die Buga endete, die Workshops und Produkte blieben. Letztere werden in der Lebenshilfe im Weimarer Land hergestellt. Es sollte regional bleiben. Es gibt sie sowohl im Onlineshop als auch in ausgewählten Läden in Erfurt und Umgebung. In Arbeit ist zudem ein Kalender: „Unkraut Royal“ entsteht in Zusammenarbeit mit der Erfurter Künstlerin Ernie Donnerberg.
Wildkräuterwanderungen und Workshops
Auch die Kurse sind fester Bestandteil geblieben. Saisonal angepasst kann man in Bad Langensalza oder Erfurt lernen, wie man Partysnacks aus Wildpflanzen kreiert, Wildbeeren haltbar macht oder eigene Teemischungen herstellt. Auch Firmen- bzw. Teamevents sind sehr beliebt. Hier wird ein Menü zusammengestellt, bei dem jeder einen Bestandteil eines Ganges sammelt.
Vielseitigkeit von Pflanzen
Das merke ich auch im Gespräch. Ich erfahre während unseres Spaziergangs etwas über die Wirkung von Lindenknospen bei Erkältung (Gemmotherapie (Gemma = lat. die Knospe)), die Giftigkeit des heimischen Nadelbaumes Eibe („Baum des Todes“) und dass man deshalb in seinem Schatten keine Kräuter sammeln sollte. Außerdem verrät mir die zweifache Mama ihre Top drei:
- Mädesüß (hilft bei Migräne),
- Giersch,
- Brennessel.
Am Ende des Interviews denke ich: Wildpflanzen sind einer fremden Sprache ähnlich, die man lernt. Je mehr man sich damit beschäftigt, desto klarer werden die Bestandteile. Aus einem Klangteppich formieren sich Inhalte. Aus einem Unkrautteppich wird ein Wildkräuterbuffet. Der Weg entsteht, indem man ihn geht. Oder wie Christine sagt: „Es geht immer für alle.“
Übrigens: Momentan fehlt nur noch eins zum Glück: Ein waldnaher, eigener Raum in Erfurt, in dem sie ihre Kurse geben kann. Wer einen solchen vermietet, darf sich gern melden
Hard Facts:
- Instagram – @wildrausch
- www.wildrausch.de
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