Seit 2007 bereichert der Tanztheater Erfurt e. V. als professionelle Plattform für Tanz die Kulturlandschaft des Freistaates. Zudem fungiert der Verein als Ausbildungsstätte mit tanzpädagogischen Angeboten für den Nachwuchs und Förderer von Tanz und verwandten Kunstformen generationsübergreifend. Derzeit führt das Tanztheater das Stück „dys:connect – Follow Me“ in Weimar auf, ist zugleich aber noch in viele weitere Projekte involviert. Wir wagen gemeinsam mit Tanztheater-Sprecherin und Projektleiterin Claudia Dell einen Ausblick auf das kommende Jahr.
2024 steht vor der Tür. Wie blickt ihr auf das Jahr 2023 zurück?
2023 war ein spannendes Jahr. Wir sind zu Beginn mit unserem neuen Junior Company Stück „Real Story“ an den Start gegangen. Es gab insgesamt vier Aufführungen in der Studio.Box des Theater Erfurt und in der Halle 6 im Zughafen. Neben den gut besuchten und teilweise ausverkauften Vorstellungen entwickelte sich das Projekt sogar noch über sich selbst hinaus und es ergab sich die Möglichkeit zusammen mit der Gesunden Stadt Erfurt „Real Story“ ein 5. Mal aufzuführen – diesmal zum Thema Suchtprävention und digitale Gesundheit. Unsere Veranstaltung zum Vereins-Jahresabschluss vor den Sommerferien war wunderschön. Auch hier waren wir zu Gast im Theater Erfurt und haben mit unserem Programm über 700 Besucher:innen verzaubert.
Es war vor allem für unsere Tanzschultätigkeit ein unglaublich verbindender und erhebender Moment. Im Juli hatte unser „Fragmente“ Ensemble um Daniela Backhaus die tolle Möglichkeit, ihre Arbeit auf dem Münchener „Rampenlichter Festival“ (das größte internationale jugendkulturelle Tanz- und Theaterfestival in Deutschland) zu präsentieren. Im September schnupperten wir tüchtig Partner- und Zukunftsluft, als wir mit unterschiedlichsten Formaten zu Gast im KulturQuartier Festival waren. Und zu guter Letzt hatten wir natürlich unsere Premiere am Deutschen Nationaltheater Weimar mit unserer neuen „TanzPakt“-Produktion, die in Kooperation mit dem DNT Weimar und dem Theater Erfurt entstanden ist. Eine Premiere, die uns mit vollen Rängen und Standing Ovations ehrte.
Im neuen Jahr seid ihr mit der „TanzPakt“-Produktion auch in Erfurt zu sehen. Worum geht es in „dys:connect – Follow Me“ und warum sollte man sich das Stück nicht entgehen lassen?
Es ist ein zweiteiliger Tanzabend, in dem sich Ester Ambrosino (künstlerische Leiterin) den Themenfeldern Utopie und Dystopie nähert. Im ersten Teil, „dys:connect“, wird das Ensemble von Schuberts „Unvollendeter“ begleitet. Zu den tragenden Tönen dieser fragmentarisch gebliebenen Sinfonie kreierte Ester Ambrosino einen Bilderreigen und weniger eine Choreographie im klassischen Sinne. Hier lotet die Choreographin die Möglichkeiten des Genres „Tanztheater“ mittels statisch wirkender Szenerien aus, deren Bewegungsrepertoire deswegen aber nicht weniger tänzerisch ist. Der zweite Teil des Abends kann als Kontrastprogramm verstanden werden.
Mit „Follow Me“ betrachtet sie den Menschen im digitalen Zeitalter und die damit versprochenen neuen Möglichkeiten. Während das Individuum die neue Virtualität entdeckt, ist sie im 2. Teil nun zum Alltag geworden. Das Individuum ist nicht mehr allein, sondern eine Gruppe, eine Masse. Zur elektronischen Komposition von Michael Krause und einem Videodesign von Dirk Rauscher tanzt sich das siebenköpfige, international besetzte Ensemble durch eine Welt der digitalen Selbstoptimierung, dem Eskapismus daraus und einer Welt der Avatare. Dieser Tanzabend besticht durch seine Bildgewalt, die die Chance eröffnet, sich derzeitig gesellschaftlich relevanten Fragen in künstlerischer Auseinandersetzung zu widmen. Die beiden Stücke könnten in ihrer Bildsprache unterschiedlicher nicht sein – und doch ist es gerade das Gegensätzliche, das Ambivalente, das ein unglaubliches Potenzial entfaltet.
Das Stück ist im Rahmen der deutschlandweiten Exzellenzförderung im Tanz, dem TanzPakt entstanden. Was bedeutet das für euch?
Kooperationen zwischen der freien Szene und Institutionen wie Stadt- und Staatstheatern ist nur selten bis gar nicht in der Bundesrepublik vorhanden. Wir haben uns 2017/18 für die Bundesförderung „TanzPakt. Stadt-Land-Bund“ mit dem Konzept beworben, Produktionen gemeinsam mit dem Theater Erfurt und dem DNT Weimar zu realisieren. Es handelt sich dabei um eine Exzellenzförderung, die die Arbeit des Tanztheater Erfurt e. V. adelt, indem unsere vorangegangene Arbeit und unsere beantragte Idee als von hohem Niveau sowie Qualitäts- und Wirkungsvoll im bundesweiten Vergleich eingestuft wird. Insgesamt entstehen im Rahmen dieser Förderung fünf Produktionen. „dys:connect – Follow Me“ stellt bereits die Vierte dar.
Der Tanztheater hat damit Modelcharakter für alle Theater- und Tanzschaffenden in Deutschland. Der Kooperationsgedanke ist vor dem Hintergrund unserer ganz speziellen Lage ohne Produktionsraum, Spielstätte und festes Ensemble von elementarer Bedeutung, da wir der Überzeugung sind, das Theater neu zu denken ist, indem Strukturen geteilt und Räume geöffnet werden. Tanz ist an beiden Theatern schon lange keine Sparte mehr. Um jedoch dem tanzinteressierten Publikum doch die Möglichkeit zu geben, sich mit dieser besonderen Form der Darstellenden Künste zu beschäftigen, sehen wir Kooperationen als eine gute Option Tanz regelmäßig im Repertoire zu haben und zudem lokalen Akteuren eine Bühne zu geben.
Welche und wie viele Stücke plant ihr im kommenden Jahr zur Aufführung zu bringen?
2024 steht zunächst einmal unter dem Zeichen unseres 9. Internationalen Tanztheater Festivals. Im Oktober wird es wieder soweit sein: Internationale Gastspiele, Workshops, eine neue Junior Company Produktion, der „contact.energy“ Tanzwettbewerb und ein Bundesnetzwerktreffen mit Tanzakteur:innen aus der ganzen Republik sind derzeit geplant.
Am 19. Oktober 2024 wird die fünfte und damit letzte „TanzPakt“-Produktion am Theater Erfurt veröffentlicht werden. Das besondere wird sein, dass Ester Ambrosino hier in einen choreographischen Dialog mit einem Kollegen gehen wird und so die Chance entsteht, einen Tanzabend mit zwei unterschiedlichen Choreographie-Handschriften sehen zu können.
Das Jahr beginnt jedoch mit gleich zwei Premieren in Erfurt. „dys:connect – Follow Me“ feiert am 24. Februar im Theater Erfurt Erstaufführung. Und am Abend zuvor freuen wir uns, dass unsere Tanzlehrerin und Choreographin, Daniela Backhaus, mit und am Waidspeicher Theater mit dem Märchen der Gebrüder Grimm „Die zertanzten Schuhe“ Uraufführung haben wird.
Was hat es mit der Kooperation mit dem Puppentheater Waidspeicher „Die zertanzten Schuhe“ auf sich und wie kam es dazu?
Das Tanztheater Erfurt hat in der Vergangenheit schon oft mit dem Puppentheater zusammengearbeitet. „Fairy Queen“ (2018) oder jüngst „Novecento – Die Legende vom Ozeanpianisten“ (2022) sind zwei Beispiele, die für sich sprechen. Beide waren Produktionen unter der Feder Ester Ambrosinos. In diesem Falle kam das Puppentheater gezielt auf Daniela Backhaus zu, die sich insbesondere durch ihre engagierte und elaborierte Nachwuchsarbeit eine hohe Reputation aufgebaut hat.
Das übers Jahr Gelernte wird auch 2024 beim Vereins-Jahresabschluss vor den Sommerferien auf der großen Bühne präsentiert?
Ja. Alle Kurse lernen und erarbeiten über das Jahr neue Techniken und Choreographien. Da uns kulturelle Teilhabe viel bedeutet und Bühnenluft zu schnuppern immer etwas ganz Besonderes ist, ermöglichen wir jedes Jahr unseren kleinen und größeren Tänzer:innen auf einer großen Bühne ihr eigens einstudiertes Repertoire zu präsentieren. Von den vier Jährigen, den Ballett- und Zeitgenössischen Tänzerschülerinnen, den Hip-Hopper:innen und den Breakdancer:innen, bis hin zu den erwachsenen Flamenco Tänzerinnen sind Altersstufen von 4- 50 Jahren, „mixed abled Gruppen“ und eben die unterschiedlichen Stile in einer großen Gala vertreten. Dieses Jahr waren wir im Theater Erfurt. Das möchten wir auch zukünftig weiter versuchen. Schon allein aus dem Grunde, dass dies der einzige Ort ist, der genügend Publikum unterbringen kann.
Peu á peu wird auch eure zukünftige Heimat, das KulturQuartier fertig. Werdet ihr den Ort, obwohl er erst 2025 fertig sein soll, im kommenden Jahr bespielen?
Ob und wie das beispielsweise wieder im Rahmen eines KulturQuartier-Festivals in 2024 möglich sein wird, wissen wir ehrlich gesagt nicht. Im kommenden Jahr geht es dann ja wirklich um Baumaßnahmen, die einen Betrieb auf der Bühne wahrscheinlich nicht zulassen werden – vor allem in der zweiten Jahreshälfte. Und trotzdem wird viel passieren. Wir sollten unsere Räume in unsere zukünftigen Tanzstudios verwandeln können, indem spezielle Böden, Ballettstangen und Spiegel verbaut werden. Aber vielleicht fällt uns ja auch noch eine ortsspezifische Aktion ein, in der wir die Wartezeit auf unser neues Heim verkürzen und versüßen.
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Neben euren Aufführungen seid ihr viel in der Jugend-Tanz-Bildung unterwegs. Was ist da für 2024 geplant?
Aktuell ist Daniela Backhaus in Unterbreizbach an drei Kindergärten und einer Grundschule mit Tanz-Workshops zum „Karneval der Tiere“ unterwegs. Die Region ist auf uns zugekommen mit der Idee, ein Vermittlungsangebot zu stricken, das jeden mit einbinden kann. Tanz ist hierfür ein wunderbares Mittel, da ohne große Worte probiert, experimentiert und sich miteinander bewegt werden kann. Was die Kinder jetzt im November und Dezember erarbeiten, wird dann im Januar auf der Bühne für die Eltern und Schulen präsentiert.
Die nächste Junior Company Produktion steht auch fest im Kalender. Premiere soll auf unserem Internationalen Tanztheater Festival gefeiert werden. Es handelt sich um einen Märchen-, Ballett- und Disney-Klassiker, der in eine neue Form und in unsere moderne Welt verpflanzt werden soll. Das dritte Projekt befindet sich derzeit noch in der Antragsphase und wir können noch nicht allzu viel verraten. Aber wir wünschen uns, gestützt vom kommenden Erfurter Jahresthema „Barrieren brechen – Kultur entfachen“, eine nächste Inklusionsarbeit zu entwickeln.
Welche Kurse gibt es denn bei euch?
Da wäre künstlerischer Bühnentanz, Tanzfrüherziehung und eine Brise populärer Tanz. Konkret: Ballett, Spitzentanz, kreativer Kindertanz ab 3 Jahren, Zeitgenössischer Tanz, Modern Dance, Flamenco, Orientalischer Tanz, Hip-Hop und Breakdance.
Was wünscht ihr euch für 2024? Gerade in Anbetracht, dass 2024 Wahlen in Thüringen stattfinden …
Wir verstehen jede Kulturarbeit als wichtigen Beitrag für eine offene und gesunde Gesellschaft. Teamfähigkeit, Empathie und Kreativität werden in unserer Überzeugung durch tänzerische Bewegung gefördert und geschult. Die Kinder und Jugendlichen der Junior Company erfahren Selbstermächtigung und Mitbestimmung ihres (kulturellen) Umfeldes und lösen Austausch aus. Das ist wunderbar.
Für die Freie Szene in der Kultur und Soziokultur wird es im kommenden Jahr sicher noch mal heißen, den Gürtel noch enger zu schnallen. Die aktuelle Debatte um den Bundeshaushalt wirkt sich ja jetzt schon auf Landes- und kommunale Haushalte aus. Planbarkeit und Fördermittelakquise werden immer schwieriger, da gestiegene Energie- und Lohnkosten nicht automatisch zu einem Anstieg der Kulturgelder führen.
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Zum Verständnis: In Deutschland lebt die Kulturszene von einem dichten Netz von Förderstrukturen. Stiftungen, Fonds und eben die Stadt- und Landesmittel zur Kulturförderung ermöglichen ein farbenfrohes und diverses Kultur- und Bildungsangebot. Das ist weltweit kaum noch mal so zu finden. Dieses System spricht für ein Verständnis dafür, dass Kunst und Kultur von und für jede:n erreichbar sein sollen. Kunst darf nicht zum Bestandteil der freien Marktwirtschaft werden, die nur Zahlen gelten lässt. Es darf als Experimentierfeld und muss als Spiegel unserer Gesellschaft und nicht zuletzt unser Selbst verstanden und ermöglicht werden. Dafür braucht es eine Stimme. Wir sind aktuell in Überlegungen uns noch weiter und über die Landesgrenzen Thüringens hinaus zu vernetzen, um so gemeinsame Chancen auf die Realisierung von Projekten und Kulturarbeit zu haben.
Hard Facts:
- dys:connect – Follow Me: 15. und 19. Dezember sowie 4. Januar im DNT Weimar
- Premiere im Theater Erfurt: 24. Februar
- Weiter Termine: www.tanztheater-erfurt.de
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