Mit der These „Der Erfurter Anger gefährlich? Niemals …“ hat Salve TV einen großartigen Clip in die Welt gesetzt, der polarisiert und gleichsam vor Situationskomik strotzt. Unser Autor Till Schwarzmann hat mal mit einem Augenzwinkern die Szene des „Regenschirmterroristen“ analysiert:
Abhandlung über die Vorführung der Laien-Schauspielgruppe „No Anger“ in der Landeshauptstadt Thüringens*
„Regenschirmterroristen“ – ein Kabarett in einem Akt – Abhandlung über die Vorführung der Laien-Schauspielgruppe „No Anger“ in der Landeshauptstadt Thüringens.
Der Vorhang hebt sich. Die Darstellerin Maria Rösling-Fink* beginnt das Stück mit einer professionell subtilen Imitation einer überforderten und wenig vorbereiteten Journalistin, welche im Stress zwischen den verschiedenen Drehorten für das Lokal-Format „ Anja Unterwegs“ ihren Text, den Sie erfreulicherweise in der Größe einer mittleren Plakatwand vor sich trägt, vergisst. Sie überspielt diesen Fauxpas routiniert mit einer kurzen, aber nicht minder effektvollen Kunstpause. Im Hintergrund wird der eigentliche Plot des Stücks bereits vorbereitet.
Die Lehre wird ebenso vorgestellt wie einer der späteren Hauptakteure.
Zwei Statisten kreuzen den Weg des jeweils anderen in vorbildlich-fahrradschiebender Manier. Ein Shot, der die bevorstehende Klimax vorwegnimmt und dem geneigten Zuschauer bereits ein deutliches Bild vom zukünftigen Geschehen gibt. Regisseur (Henry Matterkamp)* und Kameramann (Justus Paulsen)* sind nur zu beglückwünschen für ihr choreografisches Geschick und die Fähigkeit, scheinbar unbedeutende Bestandteile, in einer Weise in die Inszenierung zu implementieren, wie sie sonst nur den Großen Ihres Faches vorbehalten ist.
Der freilich wichtigere Part findet indes auf der linken Seite der von Frau Rösling-Fink statt. Nicht nur die große Zahl Fahrräder am linken Bildrand, eine Leihgabe des städtischen Invalidenzentrums, stellen einen bemerkenswerten Rahmen für die Handlung dar, auch die Kulisse des Anger 1 sorgt für ein nahezu perfektes Bild. (Siehe Anhang)(Bild A)
Bild A: Ein Sinnbild für Engelchen und Teufelchen auf der Schulter des Menschen?
Der, von der Kritik für seine früheren Werke hochgelobte, Akteur Sören Wiederhall betritt die Bühne mit einer der wenigen, aber fundamental wichtigen, Requisiten des Stücks, dem Fahrrad. Von nun an wird er (wieder ein genialer Schachzug des Regisseurs) seine gesamte Fahrt, bis zum jähen Ende, im Bild der Kamera fortführen. Aber allein diese Fahrt wäre dem Regisseur Henry Matterkamp nicht genug. Nein, auch der Darsteller für sich muss seinen Beitrag aktiv mitgestalten. In kecker, sympathischer und subtiler Art und Weise, durchbricht er die 4. Wand zum Zuschauer, indem er mit herausgestreckter Zunge mit der Kamera kokettiert. Hierzu sei gesagt, dass diese unvergesslichen Momente alle in den ersten 11 Sekunden des Stücks untergebracht sind. Dabei entsteht nicht ein einziges Mal das Gefühl, dass dem Zuschauer die Moral mit der Brechstange vermittelt werden soll.
Wir nähern uns nun rasant der Klimax, in der plötzlich alles ganz schnell passiert. Ein zunächst scheinbar bedeutungsloser Statist löst sich aus der grauen Masse der Häuser im Hintergrund und tritt zu den Akteuren. In einer flüssigen Bewegung nimmt er sein einziges Requisit und steckt es in die Speichen von Sören Wiederhall*. Auch hier zeigt sich wieder die akribische Vorarbeit von Regisseur Matterkamp. Die nun folgende Aktionsequenz muss monatelang geprobt worden sein. Allerdings verschwindet Wiederhall kurz aus dem Bild, wodurch nicht eindeutig feststellbar ist, ob er für den vermeintlichen Unfall von einem Stuntman gedoubelt wurde.
Ebenfalls im genau choreografierten Sturz findet sich auch der erste winzige Kritikpunkt im Stück. Die Darstellerin Maria Rösling-Fink reagiert zu schnell. Der ansonsten wundervoll erschreckte, ja geradezu panische Ruf ertönt wenige Momente im Voraus. Ein Fehler, der beim einmaligen Ansehen des Films nicht ins Gewicht fällt, der aber auch zeigt wie wichtig eine präzise nonverbale Verständigung der Schauspieler ist um eine solche Szene perfekt zu inszenieren.
Kurz nach dem Sturz zeigt sich auch der perfekt platzierte Krankenwagen am rechten Bildrand, der die Intensität und die Gefahr der Szene noch stärker symbolisiert als der Fall des Helden an sich.(Bild B)
Nun setzt auch der Schwarze Ritter zu seinem Monolog an, die Tatwaffe auf das am Boden liegende Opfer gerichtet, welches unter seinem (ebenfalls sündenbehafteten) Fortbewegungsmittel begraben liegt.
Der Monolog ist fantastisch akzentuiert, an den richtigen Stellen betont und mit einem liebevoll weichem Dialekt untermalt, der dem Darsteller Sebastian Wandlowski in Zukunft noch viel Engagements an den deutschen Schauspielhäusern einbringen wird.
Voll Sühne und Scham steht der, zurecht gescholtene, Cycliste auf. Richtet sich die besudelte Hose und schließt mit einer herkulischen Geste. Dem aufmerksamen Zuschauer fällt auf, dass er seinen für Regieanweisungen vorgesehenen Knopf im Ohr richtet, aber diese kleine Ungereimtheit sei dem Stück verziehen.
Beide Akteure verlassen nun nahezu gleichzeitig die Szenerie in, logischerweise, entgegengesetzter Richtung um die vollkommen diametralen Standpunkte, die auch in Zukunft immer weiter auseinander streben werden, zu unterstreichen. Für die beiden Künstler ist das Stück an dieser Stelle vorbei. Sie dürfen unter tosendem Applaus die Bühne verlassen.
Im Hintergrund wird, diesmal akustisch, die Handlung weiter vorangetrieben. Der Epilog beginnt. Eine neue Darstellerin betritt die Bühne. Hannelore Wagner, einst gefeierte Walküre am deutschen Nationaltheater in Weimar, ließ es sich nicht nehmen für die Inszenierung ein letztes Mal die Bretter die, die Welt bedeuten zu erklimmen.
Frau Wagner präsentiert uns in diesem cineastischen Stück die Moral, welche immer am Ende eines lehrreichen Beitrags stehen sollte. Sie weiß aber auch die Situation und das bis dato angespannte Publikum durch Ihre herzliche Art und ihr freundliches Lachen aufzulockern und einen Schuss Operette in das Drama zu bringen.
Es folgt ein Dialog zwischen Maria Rösling-Fink und Hannelore Wagner, der eine Mentor-Schüler-Beziehung zwischen den beiden Akteurinnen aufbaut, wie es nur einem begabten Drehbuchautor wie Franz Nabelrahm gegeben ist.
Der Regisseur kann es sich im Folgenden nicht nehmen lassen, die prägende Szene in Zeitlupe abzuspielen und die Aufklärung nur den Stimmen der beiden Schauspielerinnen zu überlassen. Das klassische Voice-Over hier in einer gewagten aber auch gelungenen Neuinterpretation.
Mit dem Ausspruch „Ich habs schon oft gesagt“ stellt sich Rösling-Fink in die Position des objektiven Mahners. Der Ausspruch steht im Konflikt zu historischen Aussprüchen wie „Wir haben ja nichts gewusst“ (Elisabeth Meyer, 1945, Weimar) oder „Wir hatten ja nichts“ (Enrico Mirhen, 1990, Töttelstädt). Sie wird wohl damit den ersten zitierfähigen Satz Erfurts des 21. Jahrhunderts prägen.
Zurück zur Handlung. Hannelore Wagner gibt uns nun, nachträglich (pfiffiger Twist), den dringend benötigten Kontext zum eben Gesehen. Rhetorisch gekonnt und einwandfrei umschifft Sie die schwierige Ausdrucksweise, sodass der Kontext für alle leicht verständlich und nachvollziehbar ist.
Wichtige Anmerkungen werden von Rösling-Fink eingeflochten (Helmpflicht, Radfahr-Verbot). Ein Lehrvideo aus dem Lehrbuch. Immer wieder unterbrochen von expliziten Darstellungen der Schlüsselszene.
Eine letzte Frage bleibt: Wollte der Regisseur mit der letzten Aussage („nicht reinschieben“) und symbolischen Darstellung von Rösling-Fink auch einen Kommentar zu aktuellen Sexismus-Debatte abgegeben? Der sonst so feinsinnige Beobachtungssinn Matterkamps und die deutliche Darstellung legen den Verdacht nahe.
Ein Fazit:
Auch die jüngste Inszenierung Matterkamps hat wieder ins Schwarze getroffen. Durch sein Gespür für die richtige Einstellung im richtigen Moment hat er ein Monument für die Ewigkeit geschaffen, welches noch weit über die Grenzen, der Radfahrer-geplagten Stadt Erfurt Bestand haben wird. Ein großes Lob gebührt den Schauspielern Rösling-Fink, Wiederhall, Wandlowski und Wagner. Niemand sonst hätte dem Stück einen solchen Atem einhauchen können wie diese Künstler der Extraklasse. Alle Fragen wurden beantwortet. Ein rundum geschlossener Kreis der Kritik und Kunst.
Lediglich die Frage nach der Sexismus-Debatte lässt den Autor radlos zurück.
Hier geht es zum Video: www.salve.tv
Text: Till Schwarzmann
*Sämtliche Namen sind vom Autor frei erfunden. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es sich hier um einen kabarettistischen Text mit einem Augenzwinkern handelt.