Er ist wie wenn man plötzlich fünf bisher ungekannte Beethoven-Symphonien entdecken würde. So beschreibt Johannes Paul Gräßer den Fund der Handschriften und Notenblätter, die in Erfurt am 2. und 3. Oktober erstmals aufgeführt wurden. Das Klezmerorchester Erfurt widmete sich dem neuentdeckten historischen Material der Kiselgof-Makonovetsky Sammlung, das in vor drei Jahren in Archiven in der Ukraine gefunden wurde. Unzählige alte Transkriptionen und bisher zum Teil unbekannter Melodien können nun für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Laut Johannes, der zur künstlerischen Leitung des Orchesters gehört, ist der Fund für die Klezmerwelt von enorm großer Bedeutung, da sich das Repertoire somit auf einen Schlag vermehrt habe. Wir sprachen vor der Welturaufführung der neuen Melodien, die in Kooperation mit dem Klezmerinstitut New York stattfindet, mit Johannes Gräßer über die einzigartigen Konzerte.
Hey Johannes, wie kamt ihr eigentlich zum wiederentdeckten Material?
In der Klezmerwelt war unter den Wissenschaftlern bekannt, dass es 1912 bis 1914 in Osteuropa Expeditionen gab, bei der die traditionelle Musik der Juden, die wir heute als Klezmermusik kennen, erforscht werden sollten. Auf dieser Reise wurden Musik, Noten und Berichte gesammelt. Die sogenannte An-ski-Expedition sammelte unglaublich viel Musikmaterial. Und seitdem war das dann auch irgendwie verschwunden. Man wusste nur, dass es wohl in einem Archiv in Kiew noch Material aus dieser Sammlung gibt.
Immer wieder gab es Versuche, da ran zu kommen. Aber erst 2017 gelang es einer Musikerin der University of Tokyo einen offiziellen Forschungszugang zu den „Kiselgof-Materialien“, die am Institute of Manuscripts in Kiew lagen, zu bekommen. Sie reiste nach Kiew und erhielt die Erlaubnis, hochwertige Fotografien der Seiten mehrerer Notizbücher zu erstellen, die im Archiv aufbewahrt werden. Was sie vorfand, ist ein unglaublicher Schatz. Sie fotografierte über 1.400 der alten Manuskripte. So kamen diese zum Klezmerinstitut New York und infolge zu uns.
Wie muss man sich das historische Material vorstellen? Sind das Notenblätter? Liederbücher?
Im Archiv sind vorrangig Handschriften, die zum Teil auch sehr beschädigt sind. Einzelne Notenblätter, Hefte und Texte über die Musik. Zum Teil ist das Papier zerknittert oder nur noch in Fragmenten vorhanden. Andere Teile zeigen sehr gut die Noten inklusive Anmerkungen, wer diese an die Forscher übergeben hat, wo das war und auch zu welchem Anlass die Musik gespielt wurde. All das ist ein wahnsinniger Sprung in der Forschung. Wir haben nicht nur auf einen Schlag über 1.400 Melodien mehr, sondern auch eine Kontextualisierung der Musik. Für die Klezmerwelt ist das von enorm großer Bedeutung, da sich unser Repertoire somit plötzlich enorm vermehrt hat.
Unter dem Dach des Klezmerinstitut New York hat sich dann sehr schnell eine internationale Initiative von Musikern und Wissenschaftlern zusammengetan, die die Aufarbeitung und Veröffentlichung dieser Sammlung ermöglichen will. Sowohl Fotografien der Originalmanu-skripte als auch gut lesbare Abschriften werden Stück für Stück online gestellt und der öffentlich zugänglich gemacht. Schließlich soll die Musik, von deren Existenz wir so lange nichts wussten, wieder gespielt werden.
Wie liegt euch das Material jetzt vor?
Meine Kollegin Szilvia Csaranko, mit der ich das Klezmerorchester Erfurt seit 2015 leite, ist Teil dieser internationalen Initiative. Sie hat selbst einen Großteil der über 1.400 Manuskripte gesichtet, gespielt und ein für das Orchester passendes Programm daraus zusammengestellt. Die Noten extra für die Konzerte digitalisiert und arrangiert. Wir spielen also tatsächlich Material, das so in dieser Form noch nie aufgeführt wurde, Klezmermusik von vor weit über 100 Jahren, erstmals in einer so großen Besetzung mit über 80 Mitwirkenden. Das weiß auch das Klezmerinstitut New York zu würdigen und entsendet eine Vertretung nach Erfurt: Die Akkordeonistin Christina Crowder ist eine der Protagonistinnen des Digitalisierungsteams und wird selbst in Erfurt beim Klezmerorchester mitspielen.
Ist Klezmer eine so stark in der Ukraine verwurzelte Musikrichtung?
Ja. Früher. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war Osteuropa und vor allem auch Teile der heutigen Ukraine die Hochburg jüdischen Lebens und somit auch ihrer Musik. Die Musik, die erst in den 1970ern unter dem Genre „Klezmer“ gelabelt wurde, verschwand dann mit dem Auslöschen jüdischen Lebens und spielte nur noch unter vor allem in die USA ausgewanderten Juden eine Rolle. In der Ukraine selbst wurde und wird auch heute diese Musik nicht mehr gespielt. Dennoch ist die Ukraine eines der wichtigen Länder bei der Entwicklung des sogenannten aschkenasischen Judentums zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert. Odessa zum Beispiel muss Überlieferungen zu-folge eine Hochburg der „Klezemorim“ (jiddisches Wort für Musiker) gewesen sein.
Ganz persönlich: Wie fühlt es sich für dich an, das historische Material erstmals zu spielen und in den Händen zu halten?
In einer Randnotiz der Manuskripte lesen wir, dass die Forscher von damals schon befürchtet haben, dass diese Musik eines Tages aussterben wird. Mit der Reise wollten sie diese für die Nachwelt erhalten. Das wir das jetzt tun und diesen spannenden Wiederentdeckungsprozess erleben dürfen, ist schon etwas Besonderes. Wir treten damit aber auch ein Erbe einer Jahrhunderte alten Musik an, um diese für die Zukunft zu erhalten.
Wir haben natürlich keine akustischen Hinweise, wie die Musik zu klingen hat. Aufgrund unserer Erfahrungen mit anderen historischen Aufnahmen können wir hier aber vieles übertragen und hoffen, dass wir der Tradition der Musik auch gerecht werden. Dennoch wird es ein Klangerlebnis, das es so noch nie gegeben hat. Damals wie heute wissen wir nicht, ob die Musik je von einem so großen Orchester gespielt wurde. Dies alles zusammen fühlt sich im Moment noch etwas unwirklich an. Die Vorfreude ist riesig groß.
Wie lange brauchtet ihr, um das mit einem so großem Orchester einzuspielen?
Die Vorbereitungen laufen seit Ende letzten Jahres. Das ganze Sichten und Hören des Materials läuft schon seit drei Jahren. Wenngleich die Coronazeit für alle Musiker hart war und bis heute ist, nutzten viele die Zeit für z.B. solche Forschungsprojekte. Ende Mai dieses Jahres gab es dann in Erfurt einen Workshop für alle Beteiligten, bei dem wir das Programm vorgestellt und erstmals erprobten. Das war extrem spannend, weil wir ja alle nicht so richtig wussten, wie und ob das überhaupt gut klingt. Und wir waren alle begeistert. Das wird wirklich ein sehr abwechslungsreiches Programm, auch mit einigen Melodien, die eben nicht so „typisch“ nach Klezmer klingen. Zu den Noten haben Szilvia und unsere Kollegin Susi Evans aus London Playalongs erstellt. Also Tonaufnahmen mit Klavier und Klarinette, zu denen alle Mitwirkenden dann seit Ende Mai zu Hause üben. Ende September, kurz vor den Auftritten, treffen wir uns dann zu den finalen Proben, bevor wir dann unsere Konzerte in Erfurt spielen.
Und ergänzt wird das Programm dann mit Melodien von Dave Tarras?
Ja. Dave Tarras war einer der bekanntesten Klezmer-Musiker und gilt bis heute als eine der bedeutendsten Musiker-Persönlichkeiten des Genres. Von den 1920ern bis in die 1960er-Jahre hat er weit über 500 Titel aufgenommen und somit einen wichtigen „Schatz“ an Repertoire einer fast ausgestorbenen Musik hinterlassen. In der Ukraine geboren und aufgewachsen, war er Teil einer Musikerfamilie, die über Generationen die Tradition jiddischer Festmusik, des Klezmers gelebt hat.