Erst das Erzählen gibt dem Märchen seine Seele. Gedruckt liegen Märchen nur in einem Grab, durch das Lesen holen wir sie in unsere Vorstellung herauf, durch das Erzählen werden sie lebendig. Das Zitat des Märchenforschers Rudolf Geiger gibt den Tenor eines ganz besonderen Abends in Erfurt vor: Am 22. Dezember wird ab 20 Uhr im Jazzclub Erfurt die dunkle Seite der Märchen der Gebrüder Grimm beleuchtet.
Die dunkle Seite der Grimm-Märchen
Es wird blutrünstig und grausam, denn Kabarettistin und Schauspielerin Julia Maronde präsentiert eine Auswahl schauerlicher und martialischer Märchen. Diese Reise in die dunkelsten Abgründe wird mit atmosphärischen Klängen feinnervig durch den in Erfurt bekannten Jazzmusiker Robert Fränzel begleitet. Die beiden Künstler:innen wollen ihr Publikum in das schöne Gefühl des Gruselns entführen. Und passend zur Adventszeit soll eingehüllt in improvisierte Sounduntermalung klar werden, dass Märchen wohl wahrlich nicht immer gut ausgehen. Und wie Julia im Austausch mit dem t.akt-Magazin verriet, entstand die Idee zur Lesung ursprünglich durch die Ausstellung „Rotkäppchen spricht“ der Künstlerin Julia Kneise, die von Juli-Oktober 2022 im Kultur: Haus Dacheröden in Erfurt zu sehen war.
Julia, was hat dich bei der Ausstellung „Rotkäppchen spricht“ so inspiriert, dass du jetzt Grimms Märchen liest?
Seit vielen Jahren bin ich eng mit der Julia Kneise befreundet und habe den Entstehungsprozess vieler Bilder, die in der Ausstellung „Rotkäppchen spricht“ zu sehen waren, aktiv begleitet. Oft haben wir viele Stunden in ihrem Atelier in der Saline 34 verbracht, sprachen und diskutierten über die Bilder und Malprozesse. Über einen Zeitraum von sechs Jahren arbeitete Julia am Sujet der Märchen von H.C. Andersen und den Gebrüdern Grimm. Als der Termin für die Ausstellungseröffnung im Haus Dacheröden im Juli 2022 nach mehrmaliger Verschiebung durch Corona dann endlich feststand, waren wir uns schnell einig, dass es ein Begleitprogramm dazu geben sollte. So entstanden die Lesungen: „Grimmiges für Kinder“ und „Grimm für Erwachsene“.
Ähnlich wie Julia bin ich sehr früh geprägt worden von verschiedenen Märchenkosmen. Glücklicherweise bekam ich in meiner Kindheit viel vorgelesen. Später habe ich dann die Lebensklugheit und Weisheit, die in vielen dieser Märchen steckt, zu schätzen gewusst. Bis heute lese ich mit großer Lust Märchen, am liebsten die von H.C. Andersen. Julias Bildern gelingt es, trotz der vermeintlichen Düsternis, eine Ahnung von Hoffnung auf die Wendung hin zum Guten zu transportieren. Außerdem steckt in all ihren Bildern ein Geheimnis, etwas, das unbeantwortet oder unausgesprochen bleibt. Das finde ich ganz wunderbar. Der Betrachter ist gefordert, seine eigene Phantasie und Assoziationskraft zu bemühen, auch das finde ich großartig
Welche Märchen wird es unter anderem am 22. Dezember zu hören geben?
Ich habe besonders düstere und schaurige Märchen der Gebrüder Grimm ausgewählt wie Fitchers Vogel oder das Mädchen ohne Hände, zudem eine erstaunliche Bearbeitung des Märchens „Schneewittchen“ von Karen Duve und einen kurzen Text von Georg Büchner (Großmutters Märchen), der sich atmosphärisch wunderbar einfügt in das Sujet der düsteren Erzählungen. Begleitet werden die Texte vom Jazzmusiker Robert Fränzel, der mit seiner Bassklarinette improvisatorisch ganz viel an Stimmung und Assoziationsräumen dazu tut.
Wie holst du das Schauerliche aus den Märchen raus? Schreibst du sie um?
Tatsächlich beinhaltet die Textvorlage schon alles, was es braucht, um sich zu gruseln. Ich habe stellenweise gekürzt, aber nicht umgeschrieben. Mit meinem Handwerk als Schauspielerin, das ich in meinem Studium an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ erlernt habe, erhoffe ich, die Worte zum Leben zu erwecken, in dem ich gezielt innere Bilder vergrößere, Pausen und Betonungen bewusst setze, um Räume für Assoziationen und Empfindungen beim Publikum zu schaffen. Nur wenn ich vollkommen in die Atmosphäre der Texte eintauche, kann ich das Publikum mitnehmen in diese Welt.
Improvisiert ihr, also Robert und du, vor Ort alles?
Nein, selbstverständlich gibt es ein dramaturgisches, verbindliches Konzept, welches den Abend gliedert und sortiert. Ich kenne die Texte durch die intensive Beschäftigung sehr gut. Anders würde es auch nicht gehen, da die Sprache ja an vielen Stellen eher altertümlich klingt. Robert steuert improvisierte und nicht improvisierte Musik[1]stücke bei, alles – bis auf den Schlusstitel – eigene Kompositionen.
Ist Julia Kneise im Jazzclub auch involviert?
Persönlich wird sie nicht vor Ort sein können, aber es wird eine Diashow ihrer Bilder – 60 an der Zahl – geben, die während der Lesung abläuft und hoffentlich so noch ein tolles optisches Dazu zum Hörerlebnis bietet.
Welches Grimms Märchen findest du persönlich am gruseligsten?
Tatsächlich „Hänsel und Gretel“. Zwei Kinder, die von ihren Eltern zum Sterben allein in den dunklen Wald geschickt werden und in ihrer Not, um sich zu befreien, einen Menschen töten müssen. Das ist schon ziemlich düster. Aber auch „Fitchers Vogel“ mit dem Massenmörder, der eine Braut nach der anderen abschlachtet und all die Leichenteile seiner vielen Opfer in einer blutbesudelten Kammer aufbewahrt, ist entsetzlich…
Hard Facts:
- Was? Grimm für Erwachsene – Eine musikalische Lesung mit Julia Maronde und Robert Fränzel
- Wann? : Donnerstag 22. Dezember | 20 Uhr
- Wo? Jazzclub Erfurt | Juri-Gagarin-Ring 140a
- Kosten? 15 Euro