Das Gebet der 12 Stränge ist allgegenwärtig. „Ich bin der Code. Du bist der Code. Wir sind der Code.“ Nach der Großen Läuterung und dem Fall des Dunklen Matriarchats leben die Menschen in einer einzigen Mega-City. Persönliche Namen gibt es nicht mehr. Suizid ist unmöglich geworden. Fruchtbare Frauen sind selten. Das Weltbild ist von den Dysfunctional Women geprägt. Q flieht hochschwanger aus dem Tempel der Schöpfung, um einen freien, selbstbestimmten Tod zu finden. Im Schutzwald begegnet sie A und erfährt, dass sie Teil einer Prophezeiung ist …
Dysfunctional Woman – Eine dystopische Welt
Es ist eine Dystopie, welche die Erfurter Autorin Julia Kulewatz in ihrem neuesten Werk aufmacht, und es ist der erste Roman der Literaturwissenschaftlerin, die sich bis dato sehr wohl im Kurzgeschichten- und Lyrikmilieu fühlte. „Dysfunctional Woman“ stellt den Auftakt einer Science-Fiction-Trilogie dar, einer Erzählung, die bereits mit dem ersten Band viele Lorbeeren einheimste. „Ein Roman, der sicherlich zu den bemerkenswertesten Neuerscheinungen des Literaturjahres zählt“, konstatiert beispielsweise Literaturkritiker Walter Pobaschnig aus Wien. Wir sprachen mit der Autorin über ihr neustes Baby, das sie schon lange in sich trug …
Hallo Julia, das ist Dein erster Roman. Wie lange hast Du die Idee für die Geschichte schon in Dir getragen?
Die Idee war tatsächlich noch vor meinem Kurzgeschichtendebüt, „Vom lustvollen Seufzer des Sudankäfers“ (2017), geboren. Damals interessierte sich sogar ein größerer Verlag für das Manuskript und es hätte beinahe ein Romandebüt gegeben anstelle von Kurzprosa, hätte ich nicht kurzfristig allen abgesagt, weil ich mit einigen Änderungen einfach nicht hätte leben können. Man wollte beispielsweise einen Ich-Erzähler schaffen, statt der auktorialen Erzählperspektive, die ich für den Roman extrem wichtig finde, um Raum zu geben. Meine Leser haben mich in dieser Entscheidung schon jetzt bestätigt, weil man so besser mit den sehr verschiedenen Figuren und ihren Anschauungen fühlen kann. Diese „allwissende“ Erzählperspektive kann uns in das Innenleben eines menschlichen Körpers führen, in die potenziellen Gedanken eines Käfers, sie kann Zellkommunikation nachstellen oder eine künstliche Intelligenz fühlbar machen, die für diesen Roman ja auch eine große Rolle spielt.
Außerdem gibt es viele Perspektivwechsel, die ich auch im „echten Leben“ erfahren möchte, denn so entwickeln wir uns auch emotional weiter. Das Deutsche hat ja die wunderschöne Redewendung, dass man einen Gedanken, eine Idee schwanger tragen kann. Man spricht in den Book-Bubbles liebevoll vom „Buchbaby“ und der Geburt eines neuen Buchkindes. Die Idee habe ich demnach exorbitant lange in mir getragen. Dann kam es, um in dem geflügelten Wort zu bleiben, quasi zu einer Sturzgeburt. Ich habe drei Monate wie ein Höhlentroll gelebt und einfach durchgeschrieben. Meine engen Freunde kennen die Welt von „Dysfunctional Woman“ in- und auswendig. Lustigerweise gingen einige, die damals zum ersten Mal von der Idee gehört hatten, davon aus, der Roman sei bereits verfilmt, so stark empfanden sie die Bildsprache. Das hat mich sehr überrascht.
Was hat Dich zu „Dysfunctional Women“ inspiriert?
Das, was mich inspiriert, kommt aus dem Inneren. Das Außen spielt da keine große Rolle, lenkt mich oftmals sogar eher ab. Ich will im Schreiben ganz für mich sein. Ich lese dann auch nur, was für den Text relevant sein könnte, und bleibe fokussiert. Das war in diesem Schreibprozess nicht immer möglich, weil es bei Kul-Ja! Publishing (Anm. d. Red.: Erfurter Verlag, bei dem Julia arbeitet) sehr viel zu tun gab, insbesondere nach meiner dreimonatigen Stadtschreiberzeit in Neu-Ulm. Natürlich gibt es große Vorbilder der Science-Fiction, die ich verehre, wie beispielsweise Philip K. Dick, weshalb es im Roman auch eine geheime, gut versteckte Liebeserklärung an ihn gibt. Und ich habe mich gefragt, was den Menschen oder auch die Tiere der Zukunft ausmachen wird. Das war quasi der Grundgedanke.
Vorher hast Du Dich eher den Kurzgeschichten, Kurzprosa und Gedichten gewidmet. Wie kam es dazu, dass Du einen Roman schreiben wolltest? Und dann auch direkt noch eine Trilogie?
Die Vorgeschichte zum Roman habe ich ja bereits kurz umrissen. Der Weg über Kurzprosa und Lyrik hin zum ersten Roman war aber definitiv ein anderer, als wenn ich gleich so begonnen hätte. Ich war immer der Meinung, wer eine gute Kurzgeschichte schreiben kann, und das sage ich auch meinen Schreibschülern, kann sich an den Roman wagen. Vor einigen Tagen hat Bettine von Minnigerode, eine befreundete Autorin, gesagt, dass es spannend ist, wie jeder meiner Prosasätze lyrisch gerät und auch gar nicht anders kann. Als Leserin genießt sie das so, dass sie die Sätze laut vor sich her spricht, um ihrer Rhythmik zu lauschen.
https://www.facebook.com/julia.kulewatz/posts/pfbid02A8Xdz6dFzZrsE4UnDzv818nFWKobFGasAgD3oG6wDK9Dhy6yqHuZcJW61gEN3D4Cl
Ich war gerade dabei, das Begleitwort für Peter Zemlas „Letzte Balladen“ zu schreiben, die bei uns im Verlag erscheinen werden, und hatte meine Arbeit dazu auf Facebook eingestellt. Wie lyrisch meine Prosa werden kann, wird mir erst jetzt Stück für Stück bewusst. Bernhard Hennen hat das aber schon in meinen Kurzgeschichten wahrgenommen und mich in seinem Vorwort zu „Jenseits BlassBlau“ (2020) die „Poetin der Deutschen Phantastik“ genannt. Das hat damals ganz schön für Furore gesorgt unter anderem, weil ich noch nicht wirklich bekannt war und auch noch keinen Roman geschrieben hatte. Ich kippelte zwischen Lyrik und Kurzprosa hin und her. Jetzt stehe ich auf drei Beinen. Dass es eine Trilogie werden würde, war auch im Verlag schnell klar. Einfach auch, weil das „Worldbuilding“ so dicht ist und den Raum der Dreiteilung braucht. Natürlich geht auch der Trend hin zur Serie und die Spannung wird automatisch erhöht.
Dein Buch heißt „Dysfunctional Woman“. Aber was ist eine Dysfunctional Woman überhaupt?
Die so genannten „Dysfunctional Women“ sind künstlich erzeugte, humanoide Frauen, die man bei AnaXXon bestellen und durch Modifikation seinen Bedürfnissen anpassen kann. Das hat natürlich seine Grenzen, die nicht zuletzt durch Gesetze in der Mega-City, dem Centrum, geregelt sind. Die allererste „DF“ hieß Alexxis und kam als eine smarte, fast androgyne Brünette mit Pferdeschwanz, und zwar in der „All-you-canneed-Edition“. Die DFs werden umgangssprachlich so genannt, weil sie alle ab einem bestimmten Tuning-Level Fehlfunktionen entwickeln, die von lustig bis gefährlich reichen können. So entwickeln sie aber gleichzeitig eine Art seltsame Individualität.
Du sprichst vom „Gebet der 12 Stränge“. Das klingt ziemlich geheimnisvoll, was hat es damit auf sich?
Das Gebet der 12 Stränge ist ein Schöpfungsgebet, vielmehr aber eine Programmierung, eine Gleichschaltung über Sprache auf den ureigenen Code hin. Persönliche Namen gibt es in meiner Dystopie ja nicht mehr. Vordergründig wird das Gebet aber im „Tempel der Schöpfung“, wo die letzten noch fruchtbaren Frauen der Erde leben und gebären, gesprochen.
Warum spielt die Geschichte in solch einer Dystopischen Welt? Was reizt Dich an einer Dystopie, warum hast Du Dich nicht für eine Utopie entschieden?
Das hat viele Gründe. In Ostdeutschland haben wir eine großartige Tradition, was Science-Fiction betrifft, und ich glaube, das ist gar nicht so vielen bewusst. Ich kam schon früh mit entsprechenden Büchern in Berührung und habe sie heimlich unter der Schulbank gelesen. Einer meiner Deutschlehrer (ich habe oft die Schule gewechselt) hat mich dann öfter aufgefordert, doch allen in der Klasse laut vorzulesen, was mich so fesselt, und das habe ich dann natürlich auch getan. Dann ist dieses Genre nach wie vor eine Männerdomäne, auch wenn die Frauen kräftig aufholen. Ich habe übrigens großartiges Feedback und Unterstützung von alteingesessenen männlichen Science-Fiction-Größen bekommen. Als ich dann dazu noch das erste Kompliment von einem eingefleischten Buchblogger aus eben dieser Community zum Worldbuilding bekam, war da ein riesiges Aufatmen.
https://www.facebook.com/julia.kulewatz/posts/pfbid0BhB5BXxMyVxpzKBXMxXWQzvEQPtUSwaG3Ev5utQvyQhSooCveEeJCjcE2HfnBnkgl
Siehst Du Parallelen zwischen Deiner dystopischen Darstellung und unserer realen, heutigen Welt?
Ich versuche gar nicht so sehr, das zu verorten. Einige Leser haben aber schon jetzt gesagt, dass das ganze Szenario erschreckend real ist und dass ich einfach weitergedacht habe. Vieles, was in Büchern geschrieben wurde und was wir vielleicht für unmöglich gehalten haben, ist heute Realität, im positiven wie im negativen Sinne. Ich werde mich von meiner eigenen Welt überraschen lassen, gleichzeitig gebe ich sie frei und schenke sie allen Lesern. Letztendlich wird die Zeit entscheiden.
In welches Genre würdest Du Deinen Roman einordnen? Ist es ein Märchen, Science-Fiction, Fantasy …?
Wir haben bei Kul-Ja! Publishing den liebevollen Begriff „Genre-Bastard“ eingepflegt. Wir lieben es, Schubladen zu sprengen. Wir sind die Idealisten. Von daher ist das auch vor meinem literaturwissenschaftlichen Hintergrund gar nicht so einfach. Ich habe mich privat auch einige Zeit lang gefragt, wo ich „The Hunger Games“ von Suzanne Collins einordnen würde. „Dysfunctional Woman“ hat definitiv einige sehr witzige Märchenanleihen (die versteht man in dieser fiktiven Zukunft nämlich nicht mehr, weil sie nur noch im Fragment, wenn überhaupt, erhalten sind).
Kannst Du einen Ausblick auf die restlichen Bände der Trilogie geben?
Ohne zu viel zu verraten natürlich. Die Fortsetzung „Dysfunctional“ wird aller Voraussicht nach im Frühjahr 2024 pünktlich zur Leipziger Buchmesse, auf der wir auch als Verlag vertreten sein werden, erscheinen. Sexualität gibt es in meiner Dystopie ja nicht mehr und trotzdem wird die Fortsetzung mit einer hoffentlich extrem heißen Sex-Szene beginnen. An der schreibe ich gerade. Auch wird es „neue pädagogische Konzepte“ geben und wir lernen, wie man über KI foltern kann. Der Entsorger, der als meine bisher sexistischste Figur überhaupt interessanterweise zum Publikumsliebling avanciert ist (danke, Leipzig), wird in der Fortsetzung seinen ganz großen Auftritt bekommen, genauso seine hyperschräge DF, Miranda. Und im dritten Teil, der im Frühjahr darauf erscheint, wird alles zurück zum Ursprung führen, wir werden bei „Woman“ angelangen.
Hard Facts:
- Dysfunctional Woman ist bei Kul-Ja! Publishing in Erfurt erschienen
- Wo gibt`s das Buch? In Erfurter Buchläden | Online unter: www.kul-ja.com
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