Seit Sonntag (15. Januar) ist das Dörfchen Lützerath in Nordrheinwestfahlen offiziell geräumt. Der Energiekonzern RWE will die Siedlung abreißen, um Platz für den Kohleabbau zu schaffen. Tausende Menschen demonstrierten in den vergangenen Tagen gegen den Abriss von Lützerath und für den Klimaschutz. Laut Fridays for Future versammelten sich am vergangenen Wochenende 35.000 Menschen bei einer Großdemonstration in der Nähe des Ortes. Und mittendrin war unser Fotograf und Reporter Jacob Queißner. Der aus Gera stammende 22-Jährige berichtet regelmäßig für das t.akt-Magazin aus Ostthüringen. Für uns hat er seine Erlebnisse geschildert.
Wie lange und wann genau warst du in Lützerath?
Ich bin gemeinsam mit einem anderen Geraer Fotografen am Sonntag (8. Januar) nach Lützerath gefahren. Dort sind wir im Dunkeln drei Stunden durchs Dorf gelaufen, bevor wir unser Zelt in einem der benachbarten Protest-Camps aufschlugen. Die zweite Nacht verbrachten wir in einer kleinen Pension, die dritte dann in einem der Häuser in Lützerath selbst. Am Mittwochnachmittag (11. Januar) reisten wir gegen 15 Uhr wieder ab. Ich bin dann am Freitag (13. Januar) mit einem Solibus der Grünen Jugend aus Thüringen ein zweites Mal nach NRW gefahren und übernachtete dort in einem der Camps. Zurück ging es dann für mich in der Nacht zum Sonntag (15. Januar).
Was hat dich bewegt, von Gera nach NRW zu fahren?
Betrachtet man das Gesamtausmaß der Sache, betrifft Lützerath die ganze Welt. Solche Ereignisse gibt es nicht alle Tage. Für mich als Fotograf war es spannend, dort vor Ort zu sein. Das alles zu erleben und zu dokumentieren.
Bist du nur als Fotograf gefahren, oder auch weil du dich mit der Protestbewegung identifizierst?
Als Journalist versuche ich so neutral wie möglich an Themen ranzugehen. Das ist mir hier schwergefallen. Man lernt nette Menschen und deren Welt kennen und am nächsten Tag wird alles für den Profit einer Firma weggerissen. Außerdem ist es im Grunde auch meine Zukunft, die dort abgerissen wird. An Aktionen habe ich mich aber nicht beteiligt. Ich habe nur fotografiert und mit den Menschen geredet.
Du hast dort im Camp übernachtet. Wie war es?
Im Dorf und im Camp war alles durchorganisiert. Es gab verschiedene Möglichkeiten, zu übernachten – in Häusern, ehemaligen Scheunen und Zelten. Zunächst entschieden wir uns ins UAC (Unser aller Camp) im Nachbarort auf einen Fußballplatz zu gehen. Es war kalt, windig und regnete die ganze Zeit. Nach einer schlaflosen ersten Nacht entschieden wir uns an Tag zwei (9. Januar) in einer Pension zu übernachten. Am dritten Tag entschieden wir uns in Lützerath in einem Haus zu übernachten. Es war erstaunlich, trotz des ganzen Matsches und des ungemütlichen Wetters waren alle recht guter Dinge.
Du bist an deiner dritten Nacht von der Polizei durch die Räumung geweckt worden. Was ist da genau passiert, als du aufgewacht bist?
An einem Info-Point informierten wir uns am zweiten Tag, wo mir mit unserem Kamera-Equipment im Dorf übernachten konnten. Man verwies uns auf ein kleines Reihenhaus am Rand des Dorfes, wo mit uns noch weitere Aktivist:innen übernachteten. Es war klar, dass es irgendwann zur Räumung kommt, aber trotzdem war es überraschend, als es stattfand. Via Funk erreichte einen Aktivisten, der mit uns im Reihenhaus übernachtete, der sogenannte mittlere Alarm. Das heißt, Polizei ist im Anmarsch. Keine zehn Minuten später hörten wir eine Sirene und der Großalarm startete. Sofort packten wir unsere Sachen und bewegten zum Dorfeingang, wo die Polizisten bereits „den äußeren Verteidigungsring“, wie die Aktivisten es nannten, durchbrochen hatten.
Was hast du die ersten drei Tage vor Ort gemacht?
An Tag eins schauten wir uns das Dorf an und beobachteten das Treiben. Bei jedem Durchgang veränderte sich das Bild von Lützerath. Die Menschen vor Ort errichteten Barrieren, bauten und bastelten. Wir kamen mit den verschiedensten Personen ins Gespräch. Zwischendurch gab es bereits kleine Scharmützel mit der Polizei. An Tag zwei hielten wir uns hauptsächlich am Ortseingang auf, wo die Polizei an der Straße immer weiter vorrückte und die Aktivist:innen mit Sitzblockaden, Menschenketten, Barrieren und verschiedenen Aktionen versuchten, das Fortschreiten aufzuhalten. Dort beobachten wir erstmals Gewalt, die hauptsächlich von der Polizei ausging.
Am dritten Tag war der Tag der Räumung. Wir rannten durchs Dorf und versuchten, alles zu fotografieren und dokumentieren. Zum einen, weil das Ganze spannend zu beobachten war, aber zum anderen auch, weil es keine Kontrollinstanzen für die Beamten vor Ort gab. Es erschien uns wichtig, keinen Fleck unbeobachtet zu lassen. Überall war deshalb Presse, die teilweise auch von den Polizisten zurückgedrängt wurde.
Wie war es, inmitten einer so großen Protestbewegung zu sein?
Es war unglaublich, was aufgebaut und organisiert wurde. Ehrlich gesagt, finde ich es schade, dass das Dorf nicht mehr existiert. Es war wie eine andere Welt, eine Utopie, eine andere Gesellschaft. Kapitalismus gab es dort nicht. Steht man einen Moment fragend herum, wird einem sofort Hilfe angeboten. Alles sind füreinander da. Jeder hat etwas zu tun. Jeder wird gebraucht. Aber niemand wird ausgenutzt. Es gab Schichtwechsel an den verschiedensten Positionen und Blockaden. Es wurde sich um alles gekümmert. Essen, Toilette und mehr. Alle waren durchweg motiviert.
Es war Wahnsinn, was die Leute auf sich nahmen. Am Dienstag beobachtete ich, wie eine Straßenbarriere geräumt wurde. Dort hatte sich eine Person an den Bauzaun geklebt. Ich weiß nicht, wie lange die dort ausharrte, sie schien zunächst bewusstlos. Doch dann fing die Aktivist:in an „Lützi bleibt“ zu singen, nachdem sie von der Polizei rausgeflext wurde. Generell war Singen und Musizieren ein wichtiger Bestandteil des Protestes. Auf einer der letzten Barrieren im Dorf stand ein Klavier, auf dem bis zum Ende gespielt wurde
Du bist am Freitag erneut gefahren. Warum? Wie war beim Protest vor Ort?
Es war klar, dass noch etwas passiert. Außerdem wurde viel mobilisiert und es waren viele bekannte Aktivist:innen angekündigt. Tatsächlich sah ich aber vor Ort kaum jemanden davon, nicht einmal Greta Thunberg. Es waren einfach zu viele Menschen. Die Polizei sagt 10.000, die Veranstalter 35.000. Der Strom an Menschen schien vor Ort nicht abzureißen, obwohl die Wettersituation sehr schlecht war. Das Camp glich einem Sumpf. Es gab Wind, Regen und sogar Sturmböen.
Kurz bevor die Demo am Endpunkt ankam, wurden die ersten Polizeiposten überrannt. Die Masse strömte Richtung Lützerath. Die Beamten hatten durch die schwere Ausrüstung im Matsch keine Chance und sind reihenweise umgefallen. Die Polizei verfolgte die komisch erscheinende Taktik, in Gruppen mit Knüppel und Geschrei auf die Demonstrant:innen loszurennen, um Angst zu machen. Die Aktivist:innen verteidigten sich, indem sie Matsch schmissen und die Arme ausstreckten. Einzeln flog Pyrotechnik. Reichlich Pfefferspray kam zum Einsatz. In einer Situation beobachtete ich, wie ein Polizist zwei Demonstranten „pfeffern“ wollte, aber durch den Wind eine Gruppe von Kollegen erwischte. Generell war nicht erkennbar, welche Taktik die Polizei verfolgte. Die Menschen gelangten bis zum Zaun, der Lützerath absperrte. Erst gegen Abend wurde es weniger, weil viele die Abreise antraten.
Es war sicher ein Erlebnis, dass im Kopf bleibt. Was ist deine eindringlichsten Erinnerungen?
Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die Menschenmassen, die als Gesamtes für ihre Überzeugungen gekämpft haben und die Einzelnen, die für sich selbst einstanden. Ich stand nicht zum ersten Mal vor solch einem Tagebau, aber als wir dort ankamen, war es wirklich beeindruckend. Man unterschätzt das ganze Bauprojekt zuerst und denkt sich: „So gigantisch wird es sicher nicht sein“, aber dann realisiert man anhand der Bagger, welches Ausmaß man eigentlich vor sich hat. Es ist Wahnsinn. Die Menschen sind sehr kreativ. Am bekanntesten ist der Tunnel, den sie bauten. Zudem gab es Baumhäuser, die bis zu 20 Metern weit oben in Bäumen errichtet wurden. Zuletzt waren die Menschen dort sehr eindringlich. Es ist kalt, matschig, die Polizei ist gewaltsam und trotzdem gehen die Menschen dorthin und kämpfen.
Was hat dich am meisten positiv beeindruckt?
Am meisten positiv beeindruckt hat mich die Motivation der Menschen. Das Leben, das durch diese Menschen ausgestrahlt wurde. Die Kultur und die Gesellschaft, die sie dort aufgebaut haben, davon können wir uns vieles abgucken und in unsere Mehrheitsgesellschaft einbringen. Das würde unsere Gesellschaft sicher zu einer besseren machen.
Was hat dich am meisten schockiert?
Schockierend war die Polizeigewalt und die Tatsache, dass ein Konzern sich einfach so Landschaft kaufen und Profit daraus schaufeln kann. Natürlich geht es um das Thema Versorgungssicherheit, aber es gibt sicher bessere Alternativen. Wenn ein Konzern so groß wird, dann geht das selten nur durch eine nette Führung. Es gab schon vorher die Ereignisse im Hambacher Forst, bei denen hinterher rauskam, dass eine Räumung rechtlich nicht in Ordnung war, und ich bin mir sehr sicher, ähnliches wird es auch im Fall Lützerath herauskommen. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wie sich das entwickelt. Am meisten schockierte mich jedoch die Staatsgewalt, die gegen die Menschen dort vorgeht und dabei die Interessen eines einzelnen Konzerns umsetzt. Zudem bezahlt RWE diesen riesigen Polizeieinsatz auch nicht selbst. Das geht auf das Konto der Steuerzahler, was ziemlich dreist erscheint.