Es ist Donnerstag. Nach einem langen Arbeitstag kommst du geschafft nach Hause. Die Tasche knallst du in die Ecke und die Jacke hängst du mit letzter Kraft an den eventuell dafür vorgesehenen Haken. Du hast noch ein bisschen Zeit bevor du zur Rückenschule musst, denn deine Ärztin hat beim letzten Gesundheitscheck fast schon einen Winkelmesser für dein Hohlkreuz gebraucht und dir ein außerordentlich langes Rezept geschrieben.
Mit TikTok in das Leben anderer Menschen blicken
Aber nun erstmal entspannen und das Smartphone 30 Zentimeter vorm Gesicht parken. Ob Facebook, Twitter, Instagram oder TikTok – die Sozialen Medien bieten dir einen hervorragenden Blick in das Leben bekannter und unbekannter Menschen. Jedoch bedient Facebook aufgrund seiner mittelalterlichen Diskurskultur lediglich dein historisches Interesse. Bei Twitter hagelt es auch nur noch kontextlose Parolen mit Glückskeks-Charakter und bei Instagram ist der goldig seidene Vorhang einer vermeintlichen Hochglanz-Foto-Plattform leider gefallen und offenbart nun die Mutation eines wild zusammengeschusterten Snapchat- und TikTok-Klons. Dann kann man auch gleich zu TikTok gehen.
Die chinesische Videoplattform hieß früher mal Musical.ly und kommt aus dem fernen Jahr 2016. Da war der BREXIT noch unser größtes Problem. Anfänglich ging es bei dem sozialen Dienst darum, kleine Musikvideos zu drehen, in welchen man sein musikalisches Vorbild imitiert. Diejenigen von euch mit Rückenschulattest kennen das noch als „Mini Playback Show“. Genau. Das mit der Zauberkugel. Inzwischen gibt es aber nicht nur Musikvideos, sondern auch allerlei Sportvideos, Menschen die lustig hinfallen, Kinder die furchtbar süß aus der Windel schauen und allerlei Tiere, die putzig, drollig und äußerst amüsant vor der Kamera posieren. Und so zappt man durch einen unendlich großen Pool an unterschiedlichstem Videomaterial, während die eigene Gefühlslage zwischen gelangweilt, amüsiert und „keine Ahnung was ich mir gerade zwei Stunden angeschaut habe“ wechselt.
Heftige HipHop-Beats untermauern
Doch seit dem 24. Februar hat sich etwas verändert. Neuerdings mischen sich – manchmal subtil, manchmal aufdringlich – Bilder und Videos in deinen Social-Media-Feet, die schocken und aufwühlen können. Plötzlich fahren Panzer durch Wohngebiete und Flakgeschütze schießen auf Flugzeuge, während das Geschehen im Video mit einem heftigem HipHop-Beat untermauert wird. Ukrainische Influencerinnen posieren nicht mehr vor Sonnenuntergängen, sondern vor zerbombten Wohnhäusern und nehmen uns hautnah mit in ihr Leben im Bombenschutzkeller oder auf ihre Flucht in die überfüllten Notunterkünfte Mitteleuropas.
Auch gefälschtes Bild- und Videomaterial im Netz
All das fügt sich absolut kontextlos zwischen all die anderen Videos ein. Und so folgt auf ein Video, in welchem ein Hund sein Schwanz jagt, eine kurzer Videoschnipsel live von der Front mit echten Soldaten und echten Panzerfäusten. Die sozialen Medien sind also auch in diesem Fall ein Katalysator, also ein Verstärker für alles, was es gibt. Dabei mischen sich zwischen echte Kriegsbilder auch gefälschtes Bild- und Videomaterial und Propaganda. Dies zu durchschauen ist wahnsinnig schwer. Nicht nur für die jüngsten unserer Gesellschaft, sondern auch für alle anderen.
Ansprechpersonen sind wichtig
Wichtig ist, dass wir in dieser Zeit niemanden alleine damit lassen. Verstörendes Bild- und Videomaterial kann Menschen belasten und verändern. Im Idealfall haben wir Ansprechpersonen oder bieten uns selber als diese an. Der Elternratgeber „SCHAU HIN!“ (www.schau-hin.info) und das medienpädagogische Angebot „Handysektor“ (www.handysektor.de) bieten hier gute und prägnant zusammengefasste Hilfen und Informationen für alle Altersgruppen. Also achtet neben Arbeitsalltag und Rückenschule auch auf eure Mitmenschen und seid da, wenn in eurem Umfeld Unsicherheiten und Ängste durch Social Media verstärkt werden.
Autor und Medienpädagoge Kay Albrecht ist Profi auf seinem Gebiet. Als freiberuflicher Pädagoge schult der Erfurter die unterschiedlichsten Zielgruppen medienpädagogisch – und jetzt seid auch ihr dran. Regelmäßig klärt Kay in seiner Kolumne über Medienphänomene auf, um kritische Zugänge zu den alltäglichen Herausforderungen der medial geprägten Lebenswelt zu legen.