„Wo ist das Vögelchen?“ – Mit dieser rhetorischen Frage versteckten sich die Fotografinnen und Fotografen unserer Kindheit hinter klobigen Analogkameras und schafften es so die nervösen Blicke der jungen Fotomotive Richtung Kameralinse zu lenken. Wo jetzt genau das Vögelchen war, wird dabei ein ewig wehrendes Rätsel bleiben. Funktioniert hat es dennoch. Scheinbar sind Menschen den Hunden dann doch gar nicht so unähnlich. Sobald jemand in überdrehter Stimme „Wo ist …“ sagt, springen unsere Blicke freudig direkt zu dem angepriesenen Objekt. Anschließend wurden mit einem kräftigen „Cheeeeeese“ oder einem frechen „Ameisenscheißeeeeeeeeee“ ein gequältes Lächeln in die untere Gesichtspartie zementiert und schlussendlich auf Fotoprint verewigt.
Social Media als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Problems
Fotos gelten aufgrund ihrer sehr einfachen Reproduzierbarkeit seit bald 200 Jahren als ein wertvolles Mittel, um Eindrücke, Momente, Gegenstände oder Personen auf unvergleichbare Weise abzubilden. Dabei spielen nicht nur technische Faktoren wie Objektiv und Brennweite eine Rolle. Für ein gelungenes Foto braucht man eine tolle Location, gutes Licht und das Gespür für den richtigen Augenblick. So überzeugen Fotos eher, wenn sie eine hohe technische und ästhetische Qualität haben. Im Laufe der Zeit wurden aus riesigen Kameras immer kleinere Geräte. Die erste Leica-Kamera passte vor knapp 100 Jahren bequem ins nächstbeste Paillettenkleid und die ersten Polaroid-Kameras ermöglichten es, in den 1940er-Jahren Bilder sofort zu entwickeln. Übrigens muss man Polaroid Bilder gar nicht umherwedeln. Der deutsche Regisseur und Fotograf Wim Wenders empfiehlt, die Fotos unter den Arm zu klemmen. Dies beschleunigt die Entwicklung, macht die Farbtemperatur etwas wärmer und gibt dem Ganzen noch eine salzige Note.
Lieblos geschossene Fotos
Mit dem Aufkommen der ersten Handykameras wurde der Fotografie ein unerwartet tief sitzender Schlag in die Magengegend verpasst. Verpixelte und unscharfe Fotos aus viel zu kleinen Objektiven, die in hoher Frequenz aus der Hüfte hoch motivierter Hobbyfotografen geschossen wurden, errichteten ein Panoptikum des Schreckens auf heimischen Festplatten. Der immer weiter anwachsende Speicher in den immer fortschrittlicheren Mobilgeräten machte Fotos zu Massenware. Endlose Fotoabende mit lieblos geschossenen Fotos vom letzten Fasching oder der lang ersehnten Silberhochzeit machten Familienbesuche zu trostlosen Orten der Verzweiflung.
Mit dem Aufkommen der Smartphones hatten Kameras auf einmal auf beiden Seiten eine Linse. Kameralinsen richteten ihr Auge so nicht mehr nur auf die Welt, sondern fungierten seitdem auch als Spiegel. Die Funktion der Kamera hat sich so in vielen Fällen umgekehrt. Die Fotografin fängt nicht mehr nur das ein, was sie sieht. Der nach außen gerichtete Blick kehrt sich auf einmal um und der Fotograf selbst wird zum Motiv. Selbstporträts sind dabei in der Malerei und Bildhauerei schon lange Thema. Das erste Selfie via Kamera wurde bereits 1839 als Businessfoto geschossen. Und wir alle erinnern uns an die Selfies in der „Bravo“. Zwei nackte Menschen, die nur mit einem Selbstauslöser bekleidet waren, gaben uns Einblicke in die Anatomie von Mann und Frau.
Auf Selfies lacht man eben
Doch sind Selfies jetzt ein Ausdruck von Narzissmus und Selbstverliebtheit? Sind Selfies ein Abbild der Realität und geben mir einen Einblick in die individuelle Lebenswelt des Fotomotivs? Die Antworten hierauf sind genauso divers wie die Menschen auf den Selfies. Viele verschiedene Studien zeigen, dass das Smartphone sich sowohl positiv (Kontakte halten) als auch negativ (Erwartungsdruck) auf soziale Beziehungen auswirkt. Wenn Menschen auf Selfies lachen, heißt dies nicht, dass diese Menschen auch glücklich sind. Auf Selfies lacht man eben. Selfies und die Präsentation in den sozialen Medien sind Teil eines gesamtgesellschaftlichen Problems. „Wäre es also nicht vielleicht plausibler, die Ursachen für die Überforderung an und den Leidensdruck unter zum Beispiel Selfies, Social Media oder allgemein Smartphones in dem Umstand zu suchen, dass wir permanent konkurrierende Werte austarieren müssen?“, so Kristina Steimer, Doktorandin am Lehrstuhl für Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München.
Internet ist ein Katalysator
Wie in anderen Texten beschrieben, ist das Internet ein Katalysator, also ein Verstärker von gesamtgesellschaftlichen Phänomenen und Gegebenheiten. Die entsprechende Hardware an und Software auf den Smartphones und Tablets sind genauso Erfüllungsgehilfen, wie es Social-Media-Plattformen sind. Wichtig ist es, seinen individuellen Umgang mit den Medien zu reflektieren. Selfies und andere Fotos können Momente einfangen, an die wir uns gerne zurückerinnern. Sie geben uns aber nur ein oberflächliches Bild unseres Gegenübers und seiner Lebenswelt und bilden nur einen Ausschnitt der Realität ab. Daran sollten wir denken, wenn wir mal wieder mit den Fotos unserer Freundinnen und Freunden zu gebombt werden. Der Blick zum Vögelchen verrät uns nur wenig darüber, was sich hinter dem Grinsen verbirgt.
Autor und Medienpädagoge Kay Albrecht ist Profi auf seinem Gebiet. Als freiberuflicher Pädagoge schult der Erfurter die unterschiedlichsten Zielgruppen medienpädagogisch. Regelmäßig klärt Kay in seiner Kolumne im t.akt über Medienphänomene auf, um kritische Zugänge zu den alltäglichen Herausforderungen der medial geprägten Lebenswelt zu legen