Sie waren fester Bestandteil einer deutschen Kindheit unmittelbar nach der Wiedervereinigung: Mini Playback Shows. Achtjährige voller Haarspray als Dieter Bohlen, Neunjährige in Spitzbusen-Topsals Madonna, Zehnjährige, geblackfaced, als Michael Jackson – dabei gab der sich doch gerade solche Mühe, sich zu bleichen. Einmal kurz Eltern grüßen, Kostüme greifen und ab durch die Zauberkugel. Danach Hüfte schwingen und Lippen bewegen nicht vergessen. Was aus heutiger Sicht höchst fragwürdig mit Blick aufs Kindeswohl erscheint, war damals Kindertraum: Die Identität zu tauschen mit der eines Stars. Und sei es nur für 3 Minuten und im Dienste von RTL.
Grandiose Unterhaltung
Die Tänzerin und Choreographin Joana Tischkau ist ein Kind dieser Zeit. Ihre Performance „Playback“ greift das Spiel mit Identitäten, aber auch mit Ungeheuerlichkeiten auf. Tischkau, selbst Person of Colour, hinterfragt, warum so viele weiße Mittelklassekinder eine Sehnsucht nach schwarzer Verkörperung hatten und bei allem Ernst ist ihre Darbietung trotzdem grandiose Unterhaltung.
Tischkau eröffnet diesjährige Ausgabe
Anfang November gastiert Tischkau mit „Playback“ im Theaterhaus Jena, und sie eröffnet damit die diesjährige Ausgabe des Festivals „Theater in Bewegung“ für zeitgenössischen Tanz vom 3. bis 11. November. Schon seit 1999 gibt es dieses Festival, das nur alle zwei Jahre stattfindet und sich ausschließlich dem zeitgenössischen Tanz widmet und damit einer der wohl intensivsten künstlerischen Form, um die ewige Suche des Menschen nach der eigenen Identität zu reflektieren. Dieses Jahr gibt es bei „Theater in Bewegung“ neben Joana Tischkau, fünf weitere Programmpunkte, die einen Besuch lohnen.
Am dritten Festivaltag verlässt das Programm kurz das Theaterhaus als Spielstätte und verlagert sich in den Trafo, jenes ehemalige Umspannwerk im Damenviertel, das mit besonderem Industriedenkmalcharme beeindruckt. An diesen Ort passt ein Kinofilm gut, der im Rahmen des Festivals gezeigt wird: Lars von Triers „Dancer in the Dark“. Mit Björk, Cathrine Deneuve und legendären Tanzszenen zwischen rasendem Traum und tragischer Realität.
Gegenwart in vollen Zügen genießen
Apropos Gegenwart, im Festival geht es dann wieder im Theaterhaus weiter. Dort stellt die italienische Choreographin Sofia Nappi tänzerisch die Frage, warum wir eigentlich so selten die Gegenwart in vollen Zügen genießen, sondern wahlweise an der Vergangenheit kleben oder Zukunftspläne schmieden. Ihr Stück „Ima“ ist somit einerseits ein Fest des Moments – andererseits eine schmerzhafte Reflexion des eigenen Rucksacks, mit dem die meisten von uns durchs Leben eher stolpern als tanzen.
Kampf mit der eigenen Identität
Der Leipziger Stepptänzer Sebastian Weber wiederum stellt nicht nur die künstlerische, sondern ganz unmittelbar die körperliche Ausdauerleistung seines Metiers in den Mittelpunkt. Doch auch, wer es vermag, in jeder Sekunde tausende Bewegungen zu machen und dabei noch musikalisch perkussive Geräusche zu erzeugen, kämpft mit der eigenen Identität: Und so erforscht Weber in „Long Run“ seinen Platz als weißer Mann mittleren Alters in einer eigentlich schwarzen Kunstform. Herausgekommen ist ein intensives Stück über kulturelle Aneignung, Rassismus und Verantwortung.
Im zweiten Teil des Festivals öffnet sich dann der Blick über Frankreich nach China: Das Stück „Xiao Ke“ des französischen Tänzers und Choreographen Jérôme Bel beschäftigt sich mit der Geschichte des zeitgenössischen Tanzes in China. Er sucht seinen Platz zwischen Tradition und Zukunft, wie so viele Künstleridentitäten in dem riesigen Land mit dem offiziellen Bild der chinesischen Nation hadern.
Virtuoser Befreiungsschlag am Abschlussabend
Am Abschlussabend folgt dann ein virtuoser Befreiungsschlag: Drei Mitglieder der deutsch-irischen Tanz- und Zirkuskompanie Hippana.Maleta integrieren das Sinnbild unserer immerwährenden Selbstoptimierung in ihr Stück: Laufbänder. Darauf kann man – das Stück heißt „Runners“ – laufen, ja,aber man kann auch jonglieren, musizieren, runterfallen und mit viel Humor Selbstbilder und Fremdbilder kontern und das ganz ohne Worte. Denn das ist das Signum des „Theaters in Bewegung“: Auch ohne Text kann Kunst mitunter alles sagen.
Hard Facts:
- Wo? Theaterhaus Jena | Schillergäßchen 1 | 07745 Jena
- Wann? 3. bis 11. November
- Mehr: www.theater-in-bewegung.de