In der Bundeskunsthalle in Bonn ist noch bis zum 17. März die Ausstellung „Immanuel Kant und die offenen Fragen“ zu sehen. Anlässlich des Geburtstages des Philosophen, der sich im kommenden Jahr zum 300. Mal jährt, versucht die Ausstellung Kants Werk einem nichtakademischen und jungen Publikum nahezubringen. Im Mittelpunkt stehen Kants bahnbrechende Beiträge zur Aufklärung, seine Überlegungen zu Ethik, Emanzipation, Erkenntnistheorie und Völkerrecht, die bis heute als richtungsweisend gelten. Doch Kants Werke haben auch eine andere Seite. „Sie sind teilweise von rassistischen, sexistischen und antijüdischen Ideologien geprägt, die zum Teil auch heute noch in unserer Kultur und in unserem Denken wirksam sind“, sagt Prof. Dr. Andrea Marlen Esser von der Universität Jena. Sie und ihr Team vom Institut für Philosophie widmen sich in einem Forschungsprojekt diesem ambivalenten Erbe der Aufklärung und bringen einen entsprechend kritischen Blick in die Ausstellung ein.
Eine Ausstellung, die zur Diskussion anregen soll
Zu ausgewählten Exponaten der Ausstellung haben der Ausstellung haben die Jenaer Forschenden philosophisch-kritische Informationen und Kommentare erarbeitet. Diese werden in der Ausstellung den Besucher:innen und sind außerdem im Internet frei zugänglich. „Unser Ziel ist es, die Besucherinnen und Besucher über diese Ambivalenzen zu informieren, sie auf etablierte Klischees aufmerksam zu machen und zur Diskussion anzuregen“, so Esser weiter. Die Jenaer Beiträge sind in Form eines digitalen Rundgangs gestaltet und bieten so die Möglichkeit zu einer „Nachlese“ nach dem Ausstellungsbesuch. Wir sprachen mit Andrea Marlen Esser über die Ausstellung und den Jenaer Beitrag.
Liebe Frau Esser, wie kam es zur Zusammenarbeit mit der Bundeskunsthalle in Bonn?
Wir wurden von dem Ko-Kurator der Ausstellung, Herrn Dr. Thomas Ebers, angefragt, ob wir kritische Perspektiven zur Ausstellung beitragen könnten. Das war im Dezember 2022 und wir haben da gerne zugesagt.
In diesem Jahr wird Kant 300 Jahre alt. Warum ist der Philosoph auch heute noch ein wichtiger Vordenker unserer Zeit?
Kants Philosophie ist Teil der deutschen und europäischen Tradition – viele Ideen und Gedanken dieser Philosophie sind in unserer Gesellschaft gegenwärtig und haben eine Wirkung entfaltet. So etwa der Begriff der Menschenwürde wie er im Grundgesetz der Bundesrepublik enthalten ist oder die Forderung nach universalen Menschenrechten – beide haben Quellen im Werk Kants. Eine ganze Reihe an emanzipatorischen Bewegungen konnte und kann sich auf Kants Praktische Philosophie und den Kategorischen Imperativ berufen, oder auf die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit aus seinen rechtsphilosophischen und politischen Schriften.
Es ist hinreichend bekannt, dass Immanuel Kant nicht gerade leichte literarische Kost ist. Wie wird in der Ausstellung versucht, den Philosophen einem nichtakademischen und jungen Publikum nahezubringen?
Hier können wir eigentlich nur für uns sprechen. Besonders jüngere Besucher:innen sind auch an kritischen Perspektiven auf Kant interessiert und fragen nach der Verortung seiner Philosophie im globalen Kontext. Unsere Exponate haben das Ziel, die Besucher:innen zum einen zu informieren, aber auch ein wenig zu irritieren und damit vorgebliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Am besten lässt sich das an einem Beispiel verdeutlichen. Der sogenannte Kategorische Imperativ wird im Philosophie- und Ethikunterricht oft und wie selbstverständlich als eine „Erfindung Kants“ vermittelt. Aber nicht nur von Kant und nicht nur in Europa wurde ein solches universalistisches Prinzip gedacht.
Wir stellen den Kategorischen Imperativ neben Formulierungen universalistischer Ethiken aus anderen, außereuropäischen Traditionen: so etwa der Ethik der Ma‘at, des Ubuntu und des Konfuzianismus. Die Besucher:innen können dann selbst die verschiedenen ethischen Prinzipien hinsichtlich ihrer jeweiligen Schwerpunkte vergleichen und zum Beispiel über deren Universalität sowie ihre mögliche Grenzen nachdenken.
Kants Werke sind teilweise von rassistischen, sexistischen und antijüdischen Ideologien geprägt, die zum Teil auch heute noch in unserer Kultur und in unserem Denken wirksam sind, sagen Sie. Können Sie ein Beispiel anführen?
In manchen Schriften Kants, vor allem aber in vielen Vorlesungen und auch in einigen Briefen finden sich eine Reihe an herabwürdigenden, diskriminierenden Äußerungen – zum Beispiel über andere Ethnien, über Frauen, über Juden … Es handelt sich dabei um Stereotypen und Klischees aus rassistischen sexistischen und antijüdischen Traditionen, auf die teilweise auch heute noch zurückgegriffen wird: so etwa der Topos, dass die europäische Zivilisation kulturell und moralisch gegenüber allen anderen Ethnien und Ländern der Welt am weitesten fortgeschritten sei; oder das im 18. Jahrhundert verbreitete Vorurteil über die vorgebliche „Indolenz“, d.h. die Faulheit der sogenannten „Wilden“.
Warum ist das gefährlich?
Solche rassistischen Vorurteile, aber auch die sexistischen und antijüdischen Herabwürdigungen sind keine Erfindung der Person Kants und auch nicht Verfehlungen nur einzelner Personen. Es handelt sich dabei um gesellschaftliche Ideologien, die ihrerseits traditionsbildend geworden sind. Die entsprechenden Vorurteile, Klischees und Herabwürdigungen werden in verschiedenen gesellschaftlichen Medien – unter anderem eben auch in philosophischen Schriften – über die Jahrhunderte hinweg bewahrt und reproduziert, wenn sie nicht kritisch reflektiert werden.
Mit jeder Lektüre sind die problematischen Klischees dann auf’s Neue präsent und können auf diese Weise unter Umständen auch ihre problematische Wirkung heute noch entfalten. Ohne eine Kommentierung bergen diese Werke auch noch die Gefahr, dass sie zur Legitimation rassistischer, sexistischer und antijüdischer Ideologien herangezogen werden – nach dem Muster: „Seht her, auch der große Kant hat diese Überzeugung vertreten“.
Warum muss sich die heutige Wissenschaft noch immer damit auseinandersetzen?
Auch der wissenschaftliche Diskurs ist nicht davor gefeit, solche Klischees und Verunglimpfungen zu reproduzieren oder sie einfach zu übersehen. Genau deshalb müssen die entsprechenden Passagen und Texte zu einem Gegenstand der Forschung gemacht werden. Es ist ja nicht so, dass wir uns als Wissenschaftler:innen per se in der Rolle von unbeteiligten Richter:innen in einer moralisch überlegenen Position befinden. Wir müssen uns auch immer wieder über die Kriterien verständigen, unter denen wir Textstellen und Werke als rassistisch, sexistisch und antisemitisch (rsa) beurteilen.
Und wir sollten uns dabei fragen, wie wir damit in der wissenschaftlichen Rezeption umgehen könnten, ohne die problematischen Inhalte einfach zu reproduzieren. Das können wir freilich nicht tun, ohne nicht auch eine selbstkritische Position einzunehmen. Dann aber müssen wir uns fragen, in welcher Weise wir selbst von dieser rsa-Tradition geprägt sind und warum so viele von uns so lange über die problematischen Textstellen hinweggelesen haben oder sie auch heute noch zu verteidigen versuchen.
„Zu ausgewählten Exponaten der Ausstellung haben die Jenaer Forschenden philosophisch-kritische Informationen und Kommentare erarbeitet.“ Können sie diesen Punkt erläutern? Wie muss ich mir diese Informationen/Kommentare vorstellen?
Die Ausstellung stellt Kant in den Mittelpunkt. Damit wird nahegelegt, dass er als ein, zwar etwas skurriles aber dabei auch recht menschliches, Genie all die wichtigen Gedanken vor allem aus sich selbst heraus geschöpft hat. Wir halten die Präsentation der Philosophie als einer Geschichte der „Großen Individuen“ und Genies für ein wenig veraltet. Mittlerweile hat die historische und philosophiehistorische Forschung in umfassenden Forschungen gezeigt, dass man sich die zeitgenössischen – philosophischen, politischen und gesellschaftlichen – Diskussionskontexte und die Themen, die darin verhandelt werden, klar machen muss; denn nur so kommt man auf die konkreten Fragen, auf die die jeweiligen Philosophien antworten, und auch auf den entsprechenden Stand der Forschung.
Ohne diesen Hintergrund kann man auch die originelle Leistung der jeweiligen Philosophen nicht angemessen herausarbeiten. Unsere Beiträge wollen entsprechende Informationen bereitstellen, um Kant im weiteren Kontext seiner Zeit zu verorten. Es scheint uns wichtig zu wissen, dass auch „Die Aufklärung“ keine homogene Bewegung ist, sondern dass sie ausgesprochen kontroverse Diskussionen und Bewegungen einschließt, in denen verschiedene Gruppen um ihre Teilhabe – teilweise durchaus erbittert – kämpfen. Denken Sie dabei etwa an Emanzipationskämpfe von Juden und Frauen. Darauf versuchen wir hinzuweisen.
Zum anderen ist es uns wichtig, auch Widersprüche in Kants Werk selbst aufzuweisen. Da wären etwa seine Auslassungen zu anderen Kulturen, die in Spannung zu den Ansprüchen seiner universalistischen Ethik stehen. Und weiterhin geht es uns darum, mit Informationen über Kant auch Anlässe zum Nachdenken über Zusammenhänge zu geben, die uns in unserer heutigen Lebenswelt betreffen: dazu dient die Information, dass Kant sein Vermögen in Aktien einer Königsberger Zuckerraffinerie investiert hat; er wusste, dass und wie unmenschlich die Arbeit für die Sklaven und Sklavinnen auf den Plantagen war. Hier geht es uns nicht darum, Kant zu moralisieren, sondern vielmehr darum, eine Frage an uns zu adressieren: Wie ist das heute? Wie gehen wir mit unserem Wissen über die jeweiligen Lieferketten um? Ist es für uns ein Grund, bestimmte Produkte nicht zu kaufen? Wissen wir, was mit unseren Geldern, die wir irgendwo investiert haben, geschieht? Wollen wir es immer wissen?
Gab es bereits Rückmeldung oder Reaktionen von Besucher:innen? Wie sehen diese aus?
In der Ausstellung gibt es eine große Tafel, auf der man seine Eindrücke und Anregungen auf einem Zettel hinterlassen kann. Was ich dort gelesen habe, klang durchweg interessiert. Aber es gibt vielfältige Wege der Rückmeldung: in den Medien, im Rahmen von Führungen und manchmal auch direkt per E-Mail. Oft wird der Wunsch geäußert, noch mehr und Genaueres zu erfahren. Es gibt aber auch „allergische“ Reaktionen, die unsere kritischen Beiträge als eine Herabwürdigung des „großen Kant“ empfinden. Deren Urheber wollen uns oft in ein Boot mit denjenigen setzen, die die Kantische Philosophie grundsätzlich verwerfen, wie das – aber auch nur teilweise – manche Vertreter:innen Postkolonialer Kritik tun. Das halten wir für ein bedauerliches Missverständnis.
Welche Bedeutung hat es für Sie, die Forschungen der Uni Jena in dei Ausstellung in Bonn mit einfließen zu lassen?
Für uns war es eine hoch interessante, aber auch herausfordernde Aufgabe, unsere Forschungsergebnisse in knapper und ohne Vorkenntnisse verständlicherweise aufzubereiten – ohne dass die Komplexität völlig verloren geht. Nicht zuletzt gibt es für Philosoph:innen nicht so häufig die Gelegenheit, Philosophie außerhalb der Akademie zu betreiben. Wir verstehen uns aber auch als ein politisches Projekt. Und als solches sind wir natürlich selbst Teil der Öffentlichkeit. Die Bundeskunsthalle ist ein Ort, an dem wir unsere politische Arbeit erproben konnten und durch die wir selbst auch zu einem Gegenstand öffentlicher Diskussion geworden sind.
Hard Facts:
- Kant-Ausstellung in Bonn: bis 17. März | Helmut-Kohl-Allee 4
- Mehr gibt´s unter Bundeskunsthalle und hier
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