Der Autor und Vorleser gehört seit vielen Jahren zur Speerspitze der deutschen Lesebühnenszene. So steht es auf Paul Bokowskis Website. Mit wunderbar komischen Kurzgeschichten hat er bereits „misanthropische Standardwerke“ (ebenfalls O-Ton Bokowski) wie „Hauptsache nichts mit Menschen“ vorgelegt, nun erscheint sein erster Roman „Schlesenburg“. Bokowski, selbst Kind polnischer Eltern, erzählt darin vom Leben in der Schlesenburg, einer fast komplett von polnischen Familien bewohnten Siedlung am Stadtrand. Im Sommer 1989 ging dort plötzlich die Angst um, Rumänen oder Russlanddeutsche würden demnächst in großer Zahl in die Schlesenburg einziehen. Die halbe Burg schaute mit Abscheu auf das Asylbewerberheim, wo sie alle wohnten. Es war das Jahr, in dem das neue Mädchen in die Siedlung zog, das Jahr, in dem Darius verschwand und in dem die Mutter des Ich-Erzählers nur Konsalik las.
Paul Bokowski liest in Erfurt
Ein gelungenes Debüt, das von Flüchtlingen und ihren Hiergeborenen, von Heimweh und einer neuen Heimat erzählt. Ein warmherziger wie auch bittersüßer Roman über den Traum von Anpassung und Wohlstand – und die Frage, wo man hingehört, wenn man nicht zu sagen weiß, wo man hergekommen ist. Am 24. Oktober liest Paul Bokowski zur Erfurter Herbstlese im Haus Dacheröden in Erfurt. Wir haben ihn vorab ein paar Fragen gestellt.
Um es mit Bryan Adams zu sagen: Was hat „The Summer of 89“ mit dir gemacht?
Genau darum geht es in meinem Debütroman „Schlesenburg“. Wie die weiße Sozialbausiedling voller polnischer Flüchtlingsfamilien, ganz tief im kulturellen Westen, zum ersten Mal ins Wanken gerät. Wie wir Kinder aus der Siedlung hinter die makellose Fassade schauen. Wie wir nach Herkunft und Heimat suchen. Es war ein Sommer der ersten Reflexion. Ein Jahr des Verlusts, aber auch einer aufkeimenden Hoffnung. Oder um es mit den Worten einer anderen großen Popikone zu sagen: „Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten.“
Was ist und bedeutet Heimat für dich?
Ich gehöre zu einer Generation an Flüchtlingskindern, denen man den Zugang zur Heimat ihrer Eltern und damit zu ihrer eigenen Herkunft, vorenthalten hat. Nicht aus Böswilligkeit, sondern der Hoffnung auf makellose und hürdenfreie Integration. Ich nenne das gerne „Hyperintergration“. Viele Menschen meiner Generation aus polnischen Familien können ihre Muttersprache nicht. Sie sind sprachlich, familiär und da-mit auch kulturell abgekapselt. Deshalb ist Heimat ein diffuser Sehnsuchtsort für mich. Etwas, das nicht in die Vergangenheit hinein, sondern allenfalls in Gegenwart und Zukunft existieren kann.
Magst du Konsalik?
Konsalik ist eine sehr flache Referenz in meinem Roman. Ich gehe gar nicht auf ihn ein. Mit Absicht. Konsalik war als Autor besonders in den 80ern ultra populär, gerät heute aber, aus guten Gründen, wie ich finde, zunehmend in Vergessenheit. Viele Leser*innen empfinden seine Bücher als sexualisierten Kitsch. Schon zu seiner Wirkzeit wurden ihm faschistoide, revanchistische Tendenzen nachgesagt und eine gewisse Apathie zur freien Presse. Ich habe nur ein halbes Buch von ihm gelesen. Reicht auch.
Wie war es für dich, erstmals nicht in Kurzgeschichten zu erzählen?
Die Geschichte musste raus. Diesen Druck habe ich lange und sehr deutlich empfunden. Das war ein drängendes Gefühl, das ich von Kurzgeschichten so nicht kannte. Die eigentliche Herausforderung war, diesen Druck zu kanalisieren. Vor dem Roman habe ich Texte geschrieben, die selten länger als vier oder fünf Seiten waren. Aber plötzlich hatte ich ein Manuskript vor mir, das langsam aber sicher in den dreistelligen Bereich hineingewachsen ist. Das fühlt sich an, als würde man zum ersten Mal in trübem Wasser schwimmen. Aufregend, aber auch sehr beängstigend.
Du bist Autor misanthropischer Standardwerke. Passend dazu: Sag mir bitte drei Dinge, die du an Menschen magst.
Menschen sind nicht statisch. Das mag ich. Sie können geknackt werden. Ihr Humor und ihre Meinung. Manch-mal erlebe ich das während oder nach einer Lesung. Und plötzlich weiß ich wieder, warum ich auftrete mit meinen Texten. Und Menschen können, wenn sie wollen oder müssen. Gut und gütig sein, zum Beispiel. Und Menschen haben einen an der Waffel. Kein blanker, wütender Wahn-sinn, sondern Macken, die liebevoll und lustig werden, wenn man sie von weit weg genug betrachtet.
Und welche drei Dinge regen dich bei Menschen am meisten auf?
Mir sind Menschen nicht geheuer, die ihre Flaschen im Supermarkt quer auf das Kassenband legen. Deren Flaschen vor und zurück kullern und die sich nicht dafür genieren. Und Menschen, die sich im Drogeriemarkt aus dem Effeff heraus daran erinnern können, welche Müllbeutelgröße sie brauchen. Und mir sind Menschen suspekt, die die Formulierung „aus dem Effeff“ benutzen.
Du wärst ja fast Arzt geworden, hättest du eine Idee, wie man deine Misanthropie heilen könnte?
Bei giftigen Substanzen gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Desensibilisieren oder vollständig meiden. Den Zug, mir eine Datsche in der Uckermark zu leisten, habe ich leider verpasst. Also bleibt nur eins: Konfrontation. In kleinen Dosen. Klappt erstaunlich gut bisher. Wer hätte gedacht, dass man mit so einer Menschen Unverträglichkeit ein halbwegs normales Leben führen kann.
Bei Lesungen sind ja oft viele Menschen am Start. Was macht das mit dir in Anbetracht deines „menschenliebenden“ Wesens?
Ich denke oft: Was soll mir schon passieren. Nichts schützt so gut, wie Rampenlicht, ein Mikrofon und ein bildhafter Roman vor der Nase.
Welche Geschichte ist die erste, die dir beim Schlagwort „Thüringen“ einfällt?
Bei einem Literatur-Event in Erfurt wurde mir einmal statt des üblichen Blumenstraußes die Stofftiervariante eines Thüringer Kloßes überreicht. Selten hat mich ein Veranstaltergeschenk so ratlos zurückgelassen. Ich habe es aber nicht übers Herz gebracht, den kleinen Kloß im Bordbistro des nächsten ICEs auszusetzen. Also habe ich ihn meinem Patenkind geschenkt und eine Lawine der Begeisterung losgetreten. Ich darf verraten: Kloßmann McKloßki hat es weit gebracht. Heute ist er das heiß umkämpfteste Stofftier eines ganzen Berliner Kinderhorts.
Hard Facts:
- Wann: 24. Oktober | 19.30 Uhr
- Wo: Haus der Dächeröden in Erfurt
- Hier gibt es noch Tickets
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