Endlich ausschlafen. Keine Arbeit, keine Schule. Auf dem Bettende hüpft es. Es ist 7.45 Uhr, Samstag, und das Kind flötet, es wolle „Brötchen kaufen gehen! Jetzt! Brauche Geld!“ Nun könnte man von Erziehungsglück sprechen, wenn Achtjährige samstags früh freiwillig für einen Teil des Frühstücks sorgen. Das ist in diesem Falle jedoch weniger der Erziehung als dem Kniestchen zu verdanken. Dem was?
Das Kniestchen in Jena
Kniestchen ist eines von mehr als 200 deutschen Wörtern für das Ende eines Brotes. Und Brote, Brötchen, Kuchen und – zur Freude des Kindes – Quarkbällchen gibt es nun samstags und sonntags am Kniestchen. Denn das Kniestchen ist auch der Name eines charmanten, alten, roten Bäckerautos, das am Wochenende an einer Straßenecke im Südviertel von Jena steht und Backwaren vom Vortag für einen schmalen Taler verkauft.
Crowdfunding-Aktion von Studierenden
Hinter dem Kniestchen steht eine Initiative, die mehrheitlich von Studierenden geprägt ist. Sie fragten sich, weshalb es in Jena bis dato keinen Vortagsladen gab, obwohl doch wie überall jede Menge Backwaren übrigbleiben müssten – vor allem zum Wochenende hin. Die Initiative stellte eine Crowdfunding-Aktion auf die Beine, brachte einen bereits ausrangierten Bäckereiwagen wieder zum Rollen und kaufte ein Lastenrad, um die Waren einzusammeln. Unweit ihrer Wohngemeinschaften bekam sie die Erlaubnis, sich an einer belebten Straßenecke nahe des Fichteplatzes aufzustellen. Mit der Bäckerei Scherf, die in Jena mehrere Filialen betreibt, fanden sie eine Vortagsbrot-Partnerin.
Neben Broten und Brötchen wird Kuchen verkauft sowie frisch gebrühter, fair gehandelter Biokaffee und Kaffee in ganzen Paketen von „San Jena“, den die Café-Chavalog-Genossenschaft in Jenas Partnerstadt in Nicaragua erntet. Außerdem gibt es Kaffee des Hamburger Café-Libertad-Kollektivs sowie Limonade vom Dresdner Zickzack-Kollektiv. Es gibt Bio-Schokolade von Zotter mit sehr kreativen Füllungen und einem nahenden Ablaufdatum. Und man kann am Kniestchen ein Wimmelbild-Poster des Comic-Künstlers Markus Wende erwerben. Darauf ist eine kunterbunte, solidarische Stadtgesellschaft zu entdecken.
„Recht auf Stadt“
Der Titel des Posters ist programmatisch für das Zeichen, das das Kniestchen jenseits der Brotversorgung setzt: „Recht auf Stadt“. Denn Jena-Süd ist eines der Viertel, das sich in der Universitätsstadt derzeit wohl am tiefgreifendsten verändert: Zeiss lässt dort das riesige Industriegelände von Schott hinter dem Westbahnhof zu einem High-Tech-Standort umgestalten. Noch ist nichts gebaut, aber im Viertel voller Jahrhundertwende-Arbeiterwohnungen, in dem etliche ältere Menschen und vor allem Wohngemeinschaften sowie junge Familien leben, klagen Menschen über Kündigungen und Leerzüge. Was neu vermietet wird, richtet sich nicht selten an High-Tech-Mitarbeitende zu High-End-Mieten.
So werden im Südviertel gerade mehr und mehr diejenigen verdrängt, die sich – mit Maske und trotzdem guter Laune – samstags und sonntags vor dem Kniestchen treffen und Leckereien vor der Tonne retten: Da ist die ältere Dame, die für ihr Kaffeekränzchen einen halben Quadratmeter Blechkuchen kauft und anstelle der 16 Euro zwanzig in die Kasse steckt. Da sind Studierende, die sich über jeden gesparten Euro freuen und da sind Familien, deren Kinder die Selbstständigkeit üben und sich hier über ein Quarkbällchen freuen. Manchmal ist da aber auch der Mensch im Anzug und mit Rollkoffer, der dort seinen Thermobecher mit Kaffee füllen lässt, auf dem Weg zum Bahnhof.
Ob Winter oder Sommer, Lockdown und Lockerungen: Kaum ein Ort in Jena drückt das „Recht auf Stadt“ aller Bewohner so sympathisch und inklusiv aus wie das knallrote Kniestchen.
Für mehr coole News klickt hier und lest das neue t.akt-Magazin online!
Hard Facts
- Wo: Jeden Samstag und Sonntag
(außer an oder nach Feiertagen) von 8 bis 12 Uhr an
der Ecke Magdelstieg/Kronfeldstraß - Mehr Infos gibt es hier