Mira Held ist Genuss-Expertin. Seit fünf Jahren betreibt sie mit ihrem Partner Flo den Blog „How to Gourmet“ und futtert sich durch Restaurants in Thüringen. In ihrer regelmäßigen Kolumne „Food Storys aus Thüringen“, die einmal im Monat erscheint, nimmt sie uns mit auf ihre kulinarischen Abenteuer in Thüringen und gibt Inspirationen für den nächsten Leckerbissen, Wochenend-Schmaus oder die kleine Alltagsversüßung.
Restaurant des Herzens in Erfurt
Durch die Lautsprecher im Saal dudeln unauffällige Hits der 90er. Drei lange Tafeln sind eingedeckt und mit Kerzen und Blumen dekoriert. Sie werden durch die Wintersonne, die durch die großen Fenster fällt, in ein helles Licht getaucht. Vor der Tür hört man es leise murmeln. Das Treppenhaus ist schon voller Gäste, die darauf warten, dass sie dieses besondere Restaurant betreten dürfen. Aber erst pünktlich um 13 Uhr schließt Restaurantleiterin Jana Keil die Tür auf. Freudig begrüßt sie die ersten Gäste. Die meisten kennt sie schon länger und mit Namen. Viele haben ihren Stammplatz an einer der Tafeln und steuern diesen zielstrebig an.
Vom Nikolaustag bis Ende Januar
Ich drücke jedem Gast beim Reinkommen eine Banane in die Hand. Denn heute bin ich mal kein Gast, sondern Bedienung. Zwei Monate im Jahr hat das Restaurant des Herzens geöffnet. Immer vom Nikolaustag bis zum letzten Werktag im Januar. Betreiber des Restaurants ist die Stadtmission Erfurt.
Was das Restaurant von anderen in der Erfurter Innenstadt unterscheidet, ist unter anderem, dass es keine Speisekarte gibt. Für die Gäste ist es jeden Tag eine Überraschung, was auf den Teller kommt. Erst wenn alle sitzen, gibt es Essen.
Zwischen Spielregeln und Gastfreundschaft
Während Stefanie routiniert die Teller bestückt, servieren Mandy und ich die ersten Portionen. Jeden Tag ist eine andere Tischreihe zuerst dran. Der Ausspruch „Ich kenne doch meine Pappenheimer!“ ist bei Jana oft zu hören. Sie weiß, dass sich sonst manche Gäste benachteiligt fühlen. Insgesamt herrscht bei ihr ein freundlich, rauer Ton, der mich ein bisschen an die herzliche Bestimmtheit erinnert, die ich aus Dorfkneipen kenne. Hier ist es wichtig, die perfekte Balance zwischen klaren Spielregeln und Gastfreundschaft zu finden.
Ein wenig Herz für später
Deswegen läuft jeder Tag im Restaurant des Herzens gleich ab. Ab 13 Uhr gibt es Mittagessen, wenn jeder etwas bekommen hat und noch etwas da ist, dann gibt es um 14.30 Uhr Nachschlag und die Option, sich in selbst mitgebrachten Dosen noch eine Portion für zuhause mitzunehmen. Viele der Gäste frieren diese für die Zeit ohne das Restaurant des Herzens ein. Danach gibt es Kaffee sowie Kuchen und die Reihen leeren sich langsam.
Das Essen kostet einen Euro, der Kaffee fünfzig Cent. Kaltgetränke und Tee gibt es kostenlos dazu. Das Geld haben die meisten Gäste passend und abgezählt dabei. Es wird vorher bezahlt, darüber wird nicht diskutiert. Die Spielregeln sind klar. Jana kümmert sich dabei um alle, sie plaudert und berät. Wenn es sein muss, verarztet sie aber auch kleine Wunden oder holt schnell eine neue Hose aus dem Sozialkaufhaus, wenn jemand danach fragt. Ist es notwendig, dann macht sie deutliche Ansagen dazu, zum Beispiel, wie das schmutzige Geschirr sortiert werden soll. Dafür gibt es Applaus und verschämte Blicke. Sie wird hier respektiert.
Ehrenamtliche Helfer
Heute gibt es Bohneneintopf. Die anderen Freiwilligen und ich behalten den Saal im Blick. Wenn jemand später kommt, servieren wir eine Portion und kassieren ab. Später widmen wir uns dem Abwasch. Manche von den Ehrenamtlichen kommen, so wie ich, an einem Tag in der Woche. Andere, die etwas mehr Zeit haben, an zwei oder drei Tagen. Dazu gibt es Jana und die Stammbesetzung der Stadtmission, die den Laden am Laufen halten.
Spenden werden immer benötigt
Dass das Restaurant jedes Jahr für zwei Monate zu einem kleinen Preis Bäuche und Tiefkühlschränke füllt, ist nicht ohne Spenden möglich. Große und kleine Sach- und Geldspenden von Unternehmen und Privatpersonen ermöglichen das Projekt. Jana plant schon jetzt die Saison im Dezember 2024. „Mir sind viele Freiwillige durch Corona abgesprungen. Jetzt muss ich einen ganz neuen Stamm aufbauen“, berichtet sie.
Wertschätzung für Kleinigkeiten
Heute gibt es als kleine Besonderheit Eis zum Nachtisch. Ich verteile und beobachte echte Freude. Nicht nur bei den Kids, sondern gerade bei den älteren Leuten. Das lässt mich mein eigenes Konsumverhalten hinterfragen. Wie viel Wertschätzung gebe ich kleinen Genüssen im Alltag? Wie selbstverständlich ist es für mich, dass ich zuhause einen vollen Kühlschrank und beim Ausgehen ein volles Portemonnaie habe? Ich gehe also heute mit einem vollen Herzen nach Hause und freue mich schon auf meine nächste Schicht im Restaurant des Herzens in Erfurt.
Hard Facts:
- Mehr unter: www.stadtmission-erfurt.de
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