Eine Momentaufnahme. Das Festhalten eines kurzen Zeitintervalls. Immer flüchtig. Doch im Zeitpunkt seiner Gegenwart sinnerfüllend. Mächtig. Einnehmend. Aber immer anders. Es ist schwer, die Musik von Martin Kohlstedt in Worte zu packen. Was alle seine Kompositionen jedoch eint, ist der Moment, in dem sie entstehen. Wird dieses vergängliche Zeitintervall nicht festgehalten, ist der erzeugte Sound des Pianisten, Komponisten und Experimentalmusikers nur noch ein Nachhall im Ohr seiner Zuhörer:innen. Eine wohlige Erinnerung. Alles hat Einfluss auf den Klang. Raum, Gegenüber, Verfassung und Zeit – allesamt Faktoren, welche die Momentaufnahme verändern. Ein immer wieder neues Bild schaffen.
Es ist alles im Moment – Martin Kohlstedt
Martin Kohlstedt bezeichnet seine Art des Arbeitens als modulares Komponieren. Seine Stücke sind ständig in Bewegung und folgen auch im Konzert keiner festgelegten Form. Improvisation ist zwingend Teil des Schaffens des 1988 geborenen Musikers. Ebenso wie die Augenhöhe mit dem Publikum, der Mut zu Scheitern und die Interaktion mit Raum, Menschen und Kontext. Deshalb ist jedes Konzert und jedes Album des Komponisten aus Weimar eine Momentaufnahme. Wo ein Stück beginn und wo es endet, kann niemand sagen. Seine Musik ist wie eine Welle im Sturm, die sich immer wieder aufbäumt, um in der Folge in sich zusammenzubrechen und neu konstruiert zu werden. Sein Werk ist das Meer. Seine Schaffenskraft der Wind.
Martin Kohlstedt sucht in seinen Alben den Diskurs mit Elektronika und Chören als Gegenüber. In der Diskussion mit sich selbst und seiner Umwelt entstand Ende vergangenen Jahres eine Rückbesinnung auf den Kern. Er legt mit „Flur“ein Album vor, das zurück zum Ursprung geht: Solo Piano. Im Frühjahr 2021 veröffentlichte Martin Kohlstedt sein Album „Reccurents“ erneut. Wieder eine Momentaufnahme. Diesmal jedoch sind seine Klänge im Diskurs mit anderen Musikern. Die auf dem Album enthaltenen Werke in Form von Reworks erhielten internationale Anerkennung und führten den Komponisten und Pianisten auf Konzertreisen in der ganzen Welt. Neben eigenen Stücken schreibt der Wahlweimarer Soundtracks für Filme, Theaterstücke, Podcasts und Hörspiele, führt sein eigenes Label und versucht sein Wirken mit Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein in Einklang zu bringen. Wir haben den Musiker für euch interviewt.
Martin, du bist Anfang Oktober in Erfurt aufgetreten und warst schon vorher viel unterwegs. Ist das jetzt die offizielle Tour zu deinem in diesem Jahr erschienen Album „Reccurents“?
Nein. Das ist bei mir immer ein bisschen anders. Die Alben folgen zwar einer Chronologie und ich setze jedes Jahr weitere Module zum Gesamtvokabular hinzu, aber bei meinen Auftritten schöpfe ich aus dem Vollen. Weil jeder Auftritt anders ist, kann ich nicht sagen, ich toure mein Album „Flur“oder „Reccurents“. Konzerte sind bei mir Abbildungen von dem, was ich in dem Jahr musikalisch produziere. Es kommen immer wieder Klavierstücke dazu. Oder irgendwelche Kleinigkeiten. Wir starten oft eine Tour, wenn ein neues Album fertig ist. Und natürlich kommen bei Auftritten vermehr aktuelle Stücke vor. Aber man kann nicht sagen, dass ich eine Tour zu einer bestimmten Platte mache. Ich hoffe, wenn ich irgendwann mal 80 Jahre alt bin und immer noch existiere, dass ich ein Konzert mit über 180 verschiedenen ineinander verwursteten Stücken spielen kann.
Du hast erst Ende vergangenen Jahres dein Album „Flur“ veröffentlicht und 2021 „Recurrents“ re-released. Du legst in letzter Zeit ganz schön was vor. Hast du einen Lauf?
Nun ist es so, dass die Pandemie eine ganz besondere Situation ist, das erlebe ich auf eine ganz seltsame Art und Weise. Obwohl es Todesfälle gab und die gesamte Menschheit einen gemeinsamen Feind hatte, muss man davon sprechen, dass es auf künstlerischer Seite auch inspirierend war. Immer, wenn etwas in der Welt passiert und gewisse Umstände verarbeitet werden müssen, dann inspiriert das auf seltsame Weise.
Man muss versuchen, das alles zu verarbeiten. Ich hatte deshalb zu Beginn der Pandemie viel Zeit und Konzentration, um am Klavier zu sitzen und zu spielen. Da sind die Stücke von allein aus mir herausgeflossen. Bei mir und bei Kunst ganz generell ist es aber wichtig, dass das Erschaffene in den Diskurs kommt, dass es hinaus geht zu den Menschen, dass es ein Gegenüber findet. Leider war das in dieser Zeit nicht möglich. Es gab keine Konzerte über den gesamten Herbst und Winter. Im Januar und Februar hat sich meine Musik richtig versteift. Ich merkte, sie ist fest geworden und ich spiele jeden Tag das Gleiche. Es passierte nichts mehr, weil ich die Rückkopplung vom Publikum nicht habe.
https://www.facebook.com/martinkohlstedt/posts/390863572395477
Ich muss meine Musik mit nach draußen nehmen, aufs Konzert. Dort entwickle ich den Sound weiter. Wenn man bedenkt, dass ich unter normalen Umständen 80 bis 100 Konzerte im Jahr spiele, kommt naturgemäß viel Output heraus. Ich merkte in diesem Sommer, dass die Stücke von “Flur“, das Ende des Jahres erschien, sehr lange in mir gewartet haben. Jetzt erst konnte ich sie nach draußen und in Wallung bringen.
Zurück zu „Reccurents“ – das Album hebt sich ab. In „Flur“ sind es eher die zarten Klavierklänge, bei „Reccurents“ klingst du komplett konträr, elektronisch. Wie kommt dieser Wandel zustande?
Das ist wie ein Perspektivwechsel. Bei „Reccurents“ war es mir wichtig, dass andere Künstler ihre Nase mit reinstecken. Die Stücke meines Albums „Ströme“ schickte ich in alle Welt raus – nach Amerika zu Sudan Archives, oder nach Leipzig zu allbekannten DJs wie Panthera Krause. Immer wenn ich dann meine „Intimitäten“ veräußere, bekomme ich eine neue Version, eine neue Perspektive zurück.
„Reccurents“ ist eigentlich schon das Rework eines Reworks, denn „Ströme“ ist bereits Weiterentwicklung alter Stücke und von Stücken meines Albums „Strom“. So ergeben sich in meiner Musik symmetrische Analogien. Meine Alben sind immer im Umarbeiten begriffen. Das bedeutet für mich, dass viele Stücke nie fertig werden. Ich lasse sie gefühlt offen und das können sich andere Künstler, wie bei „Reccurents“ , dann unter den Nagel reißen.
Also sind deine Alben Momentaufnahmen deiner Musik, die im stetigen Wandel begriffen ist?
Genau. Das ist eine gute Metapher dafür.
Du hast auf der „Reccurents“, wie bereits erwähnt, mit einigen namhaften Künstler:innen zusammen gearbeitet – wie bist du zu Ätna oder Robag Wruhme gekommen?
Ätna sind mittlerweile gute Freunde. Wir lernten uns bei Festivals kennen und verbringen gern Zeit miteinander. Deshalb war die Zusammenarbeit mit Ätna bereits in Stein gemeißelt. Das Gleiche gilt für Robag Wruhme, der in Weimar drei Häuser weiter wohnt. Wir begegnen uns quasi am Gartenzaun und da fragte ich, ob er es sich vorstellen kann, ein Rework zu produzieren. Die größere Frage ist dann eher: wie kommt man zu Sudan Archives, die in Amerika sehr erfolgreich ist. Als da die Zusage kam, da flippte ich natürlich aus. Die Antwort-Mail aus den USA öffnete ich sehr nervös und war dann überwältigt beim ersten Hören des Reworks. Man hört sich da eine komplett andere Perspektive auf seine Musik an. Und das ist großartig und auch der Sinn dahinter.
https://www.facebook.com/martinkohlstedt/posts/415478369933997
Wie funktioniert das mit dem Reworks bei „Recurrents“? Du schickst Samples und Loops deiner Musik an die Wunschkünstler und die bedienen sich daran?
Genau. Ich nehme Samples oder Ton-Spuren und stelle sie zur Verfügung, gebe aber den Künstlern die größtmögliche Freiheit. Nehmen wir Ätna als Beispiel: Die beiden haben die Akkord-Struktur und den Vibe des Stückes genommen und ihren eigenen Song daraus gemacht, ähnlich wie Sudan Archives auch. Man muss sich nicht zwangsläufig nah am Original entlanghangeln, aber es ist genauso möglich. Hendrik Schwarz machte das so. Er hat eine wunderbare elektronische Version des Stückes „Jingol“ produziert. Auf der anderen Seite gibt es auch verrückte Weiterentwicklungen, die mich erstaunen, weil sie sehr weitergedacht sind. Wenn man Raum gibt, dann kommen da sehr ehrliche Rezensionen der eigenen Stücke heraus.
Für die Menschen, die deine Musik nicht kennen: Du spielst nicht einfach Klavier, du arbeitest live auf der Bühne mit Synthesizern und mehr, kannst du mal kurz erklären, mit was du da alles arbeitest und was die Geräte machen?
Ich entwickle meine Stücke immer weiter, meistens sind sie ursprünglich Klavierstücke. Damit ich auf der Bühne genug Kraft gegenüberstelle, nutze ich drei Synthesizer, einen Drumcomputer und eine große Effektreihe. Wenn ich den einen Tag in der Elbphilharmonie spiele, am anderen Tag in einem Elektro-Club in Russland und dann wieder in einem Jazzclub in Glasgow, will ich alles verformen und anpassen können. Mal sind es im kleinen Jazzclub 70 Zuhörer:innen, mal sind es beim Fusion-Festival 3000 – da muss es möglich sein, dass ich meine Stücke in Form bringe. Manchmal ist es gut, wenn ich große, brachiale White-Noises und Druckbässe nutze, um dem Auftritt Kraft zu verleihen und den Liedern einen neuen Drive zu geben. Das ist in Kirchen genauso spannend, wie bei Festivals oder Clubkonzerten.
In Erfurt hast du am 29. September in der Thomaskirche gespielt. Generell bist du auf Tour viel in Kirchen unterwegs und spielst an den verschiedensten Orten, die teilweise sehr mit Bedeutung aufgeladen sind. Wie nimmst du die verschiedenen Locations in Verbindung mit deiner Musik wahr?
Das muss man sich vorstellen wie bei den Reworks auf „Recurrents“. In dem Moment, in dem ich meine Musik an verschiedene Personen rausschicke und das zurück reflektieren lasse, entwickeln sich die Stücke. Kommt die Variable „Ort“ mit ins Spiel, nimmt das genauso Einfluss auf mich. Wenn ich auf einem elektronischen Festival spiele, dann hat meine Musik eher zeremoniellen Charakter. In einer Kirche schwingt etwas Sakrales mit – es hallt sehr und dadurch werden die Stücke langsamer und epischer. Bei intimen Konzerten, wie im Jazzclub in Oslo, bin ich ganz nah am Menschen, da sind viel mehr Details möglich.
Manchmal will ich nur, dass verschiedene Sounds lauter sind. Wenn ich auf einem Festival um 1 Uhr am frühen Morgen oder besser gesagt in der Nacht spiele und alle Zuhöhrer:innen sind aufgeladen – vor allem nach einer langen Pandemie – da will man auch einfach nur raushauen und fühlt sich fast wie ein DJ, schiebt alle elektronischen Sachen zusammen und gibt einfach mal Gas. So wechselt mein Sound jeden Tag. Es spielen nicht nur der Raum und das verschiedene Publikum eine Rolle. Sommer, Winter, Temperatur, sitzt oder steht man – das sind alles kleine Variablen, die Einfluss haben. So entstehen bei jedem Konzert ein anderer Drive und neue Musik
Beobachtet man dich bei deinen Auftritten – wie zum Beispiel bei der Aufzeichnung deines Konzertes in der Elbphilharmonie –, sieht man, dass du viel Emotion zeigst. Da ist Lachen, Anspannung und mehr. Tauchst du beim Spielen in eine andere Welt ab?
Das kann man schon so sagen. Ich glaube, das was man da sieht, sind natürliche Auswüchse, die durch das Abbilden der Musik im Inneren entstehen. Davon ist nichts Konzept. Es ist einfach da. So habe ich das bereits als 13-Jähriger erlebt, als ich die ersten Tasten am Klavier drückte. Dabei achtet man nicht auf Mimik. In dieser Situation bin ich in der Musik und versuche den Moment abzubilden.
Also nimmst du beim Spielen die Außenwelt nicht vollständig wahr?
Es ist alles im Moment. Dann ist für mich intuitiv klar, was als Nächstes kommt. Ich berechne nicht oder erstelle ein Konzept. Deshalb bin ich nach einem 90-minütigen Konzert richtig erschöpft. Aber nicht so, wie wenn man sich körperlich verausgabt und Energie verbraucht hat. Ich bin danach richtig selig und wandele die Energie um. Dann bin ich ganz bei mir – das ist eher ein meditativer Ansatz.
https://www.facebook.com/martinkohlstedt/videos/4440359826045972/
Die Menschen drumherum und die Energien im Raum spüre ich aber auch, wenn ich ganz bei meiner Musik bin. Ohne esoterisch klingen zu wollen, man spürt einfach, wo man gerade ist und wie viel Vertrauen herrscht. Alle, die da sind, wollen meine Musik hören und mit diesem Wissen kann ich mich dann frei machen und fallen lassen.