Wir reißen das Pflaster einfach ganz schnell ab. Dann tut es nur einmal, kurz weh. Danach ist der Schmerz nicht mehr so groß: Joschi, der geliebte Plattenladenbesitzer, Kulturförderer und ein Erfurter Urgestein, will die Landeshauptstadt verlassen. „Es ist an der Zeit. Ich weiß, dass es reicht“, erklärt der 62-Jährige. In zwei Jahren, 2020, will Joschi auf Reisen gehen – mit einem umgebauten Bully Osteuropa und Asien entdecken. „Ich brauche neue Inspiration. Außerdem muss ich mir treu bleiben“, insistiert der Plattenladenbesitzer und führt aus: „Als ich nach Erfurt gekommen bin, sagte ich den Menschen, die Erfurt verlassen wollten: ‚Drüben sitzen sich die Alten die Ärsche breit und machen keinen Platz für die Jugend‘. Das soll mir jetzt nicht passieren!“
Joschi will Erfurt früher oder später verlassen
1990 kam Joschi aus Westdeutschland in den wilden Osten. „Alle fragten mich damals, warum kommst du hierher? Nach drüben, in den Westen, da wollen doch alle hin!“, erinnert er sich. „Und da sagte ich genau diesen Satz zu den Menschen. Denn für junge Ideen war damals im Westen kein Raum. Eben weil die Alten für die Jungen keinen Platz machen wollten. Hier in Ostdeutschland, in Erfurt, war das anders“, denkt der gebürtige Emsländer zurück.
Jeder Erfurter kennt Joschis Plattenladen
Hier habe er nette Leute kennengelernt und deshalb sei er nach einer Rundreise durch die neuen Bundesländer einfach hier geblieben. Er war jung, hatte Visionen und wollte die Welt verändern. Was er auch getan hat – wenn auch nur im Kleinen: Der studierte Sozialpädagoge baute in Erfurt die Kinderschutz-Institution „Schlupfwinkel“ mit auf. Den Plattenladen „Woodstock“, mit dem er in der Landeshauptstadt Berühmtheit erlang, eröffnete er nebenbei – als Hobby.
Damals gab es noch keinen Media Markt oder Saturn
Doch aus dem Hobby wurde irgendwann nicht nur Beruf, sondern auch Berufung. „Ich war schon immer musikinteressiert und als DJ unterwegs. Außerdem gab es in Erfurt 1990 noch keinen Media Markt oder Saturn. An Amazon war nicht mal zu denken. Ich besetzte mit meinem Plattenladen eine Nische, die frei war“, blickt Joschi zurück und erklärt, warum er seinen Laden „Woodstock“ nannte: „Die Zeit und das Festival war gut. Die Leute dachten damals, dass man die Welt verändern kann. Auch wenn das naiv war, war es doch ein schöner Gedanke. Ende der 60er hat man sich nicht dem Geld hingegeben, da lebte man den Moment“, schwelgt der Erfurter.
Ende der 90er verpflichtete er sich der Musik vollends
Viel Zeit ist seit der Wende – geschweige denn seit den 60ern und 70ern – vergangen. Joschi hat mit seinem Plattenladen viele Etappen hinter sich gebracht. Als er anfing, zog er in ein Abbruchhaus in der Georgsgasse. „Dort musste ich die Dachziegel umlegen, damit es auf der Seite, in der ich wohnte, nicht reinregnet“, scherzt er. Weiter führte in sein Weg über die Moritzstraße bis in die Webergasse, wo er sich ab Ende der 90er hauptberuflich der Musik verpflichtete.
Fotogalerie: Frau Korte und der Nordbahnhof
„Ich will der Nachwelt etwas hinterlassen“
2015 folgte nach vielen Höhen und Tiefen der Umzug in den Erfurter Nordbahnhof. Durch Zufall kam er an die Immobilie, investierte Zeit und Geld, um das alte Haus mit Leben zu füllen. Jetzt ist der 62-Jährige im Jahr 2018 angekommen. Durch seine Liebe zur Musik und zur Landeshauptstadt hat er ein einzigartiges Kultur-Biotop im Norden von Erfurt erschaffen. Neben seinem Plattenladen beheimatet der Nordbahnhof auch den Independent Club „Frau Korte“.
Kulturzentrum am Nordbahnhof bleibt erhalten
Sein Ziel alternativer Musik und Kleinkunst einen Raum zu geben, hat er verwirklicht. Und allen, die jetzt mit Joschis geplantem Weggang glauben, dass das Geschaffte wieder zusammenbricht, sei gesagt: das Kulturzentrum am Nordbahnhof bleibt erhalten. 2020 soll das Ganze in eine Stiftung überführt werden und somit ohne das Erfurter Urgestein weiterleben. Ganz uneigennützig räumt er als „Alter“ den Platz, um der Jugend Raum zu geben. „Ich habe keine Kinder, vielleicht will ich so der Nachwelt etwas von mir hinterlassen“, sagt Joschi und fügt an: „Musik ist eine Bereicherung. Sie ist immer da und wird immer da sein – auch, wenn ich nicht mehr da sein werde.“
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