Wenn ich eine pubertierende Schulklasse zum nervösen Kichern bringen will, pack ich das sexual- und medienpädagogische Thema der Pornografie und Jugendsexualität auf den Tisch. Das Unwohlsein und die Unsicherheit mit dem Thema erzeugen irgendwas zwischen Scham und übertriebener Coolness. Jeglicher Blickkontakt mit mir wird vorerst vermieten und ich mache kurz das Fenster auf, damit Hitze und spontan extrahierte Duftstoffe sich verziehen können. Jetzt darf ich mir selber mein kurzes Unwohlsein nicht anmerken lassen und gehe erbarmungslos weiter in das Thema rein. Die Stimmung im Raum normalisiert sich und die Jugendlichen fangen langsam an, spannende Fragen und Gedanken rund um das Thema zu formulieren. Sich gedanklich und privat mit dem Thema „Sex“ zu beschäftigen ist sehr normal. Der Austausch in einer offenen, sozialen Gruppe hingegen, regt spontan den Fluchtinstinkt an.
Eiskalte Panik bei Fürsorgepflichtigen
In Elternabenden und Lehrkräftefortbildungen ist die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, ebenso verhalten. Der Gedanke daran, dass die eigenen Kinder oder Schüler:innen ihre Sexualität entdecken, treibt den Fürsorgepflichtigen die eiskalte Panik in die wild aufgerissenen Augen.
Da liegt mehr als nur Bock auf Algebra in der Luft
Nicht allzu selten referiere ich nun vor einigen zur Salzsäule erstarrten Eltern oder wild abwinkenden Lehrkräften. Das ist nicht ihr Thema. Soll sich doch Kollege XY darum kümmern. Doch jede Lehrkraft, die bei sommerlichen Temperaturen eine 9. Klasse betritt, weiß sofort, dass hier mehr als nur Bock auf Algebra in der Luft liegt. Und um fair zu bleiben, wenn Jugendliche über die Sexualität der Eltern oder Lehrkräfte nachdenken, kommt der Liter Monster Energy wahrscheinlich auch direkt wieder da raus, wo er zuvor reinkam.
Die sexualpädagogische Arbeit mit Minderjährigen ist scheinbar noch immer ein heißes Eisen. Immer wieder ist von der sogenannten „Frühsexualisierung“ in Medien, Schule und Bildungseinrichtungen zu lesen. Die AfD fordert, diese einzustellen, um die Kinder vor zu viel Information zu schützen. In ihrer Magdeburger Erklärung schreibt die Partei, es soll „nicht Triebbefriedigung, sondern eine intakte Familie primäres Lebensziel“ werden. Jedoch braucht es Bildung und Wissen, um das grundlegende Recht auf sexuelle Selbstbestimmung überhaupt nutzen zu können. Primäres Ziel von Sexualkundeunterricht ist außerdem, über Krankheiten, Verhütung und Übergriffe aufzuklären. Lasst uns bitte von Worten wie „Triebbefriedigung“ im Kontext von Jugend-sexualität verabschieden und über „Lust“ sprechen. Das klingt etwas weniger bieder und kann einen positiven Blick auf das Thema ermöglichen.
Unsicherheit mit dem Thema
Das Gerücht, dass durch die sogenannte „Frühsexualisierung“ und Pornografie Jugendliche in ihrer eigenen Sexualität verunsichert und unreflektiert sind, hält sich hartnäckig. Im Kontext der eigenen Unsicherheit mit dem Thema führen die besorgten und wertenden Blicke Erwachsener auf die nachfolgenden Generationen oft zu Fehleinschätzungen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) veröffentlicht seit 1980 regelmäßig Studien zur Jugendsexualität. Und wie schon bei den Zahlen zu jugendlichem Alkohol- und Drogenkonsum, ist die langfristige Entwicklung eher beruhigend, als verstörend. Während 1979 noch 25,7 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren mindestens einmal die Woche Alkohol konsumiert haben, waren es 2021 nur noch 8,7 Prozent, so die BZgA.
Für gesunde sexuelle Entwicklung
Doch wie sieht es beim ersten Mal aus? Die Studie der BZgA aus dem Jahr 2006 belegt, dass Jugendliche im Durchschnitt mit 15,9 Jahren ihr erstes Mal hatten. 15 Jahre später, also im Jahr 2021, belegte die neunte Auflage der Studie, dass Jugendliche nun im Durchschnitt mit 17,2 Jahren ihr erstes Mal hatten. Laut Studie verringerte sich auch die Anzahl der Teenie-Schwangerschaften immer weiter, da der bewusste Umgang mit Verhütungsmitteln seit vielen Jahren nun schon stabil hoch ist. Ein zunehmend aufgeklärter und offener Umgang mit dem umfassenden Thema der „Sexualität“ hat also eher positive, als negative Folgen.
Natürlich ist eine gesunde sexuelle Entwicklung auch Gefahren ausgesetzt. Finden im Elternhaus und der Schule keine ausreichende sexuelle Aufklärung statt, können zum Beispiel sexualisierte und pornografische Medieninhalte ohne Schwierigkeiten in diese Lücke hüpfen. Eine Befragung der Universitäten Hohenheim und Münster aus dem Jahr 2017 ergab, dass Jugendliche im Durchschnitt mit 14,2 Jahren erstmalig Kontakt mit sexuell explizitem Material haben.
„Der erste Kontakt findet mehrheitlich zu Hause statt. In 40 Prozent der Fälle sind die Jugendlichen nicht allein, wenn sie das erste Mal pornografische Bilder oder Filme sehen, sondern sie tun dies mit Freunden. Im Alter zwischen 14 und 15 Jahren gilt dies sogar in 60 Prozent der Fälle“, so die Erhebung. Die Erkundung von Sex und Sexualität wird also häufig von dem Wunsch nach sozialem Austausch begleitet. Lasst uns die Kommunikationsräume hierzu weiter öffnen, um aktiv Gefahren, Sorgen und Unsicherheiten begegnen zu können – auch wenn wir dabei immer wieder etwas rot im Gesicht werden. Das ist ganz normal.
Autor und Medienpädagoge Kay Albrecht ist Profi auf seinem Gebiet. Als freiberuflicher Pädagoge schult der Erfurter die unterschiedlichsten Zielgruppen medienpädagogisch – und jetzt seid auch ihr dran. Regelmäßig klärt Kay in seiner Kolumne über Medienphänomene auf, um kritische Zugänge zu den alltäglichen Herausforderungen der medial geprägten Lebenswelt zu legen.
Mehr zu Kay:
Medienpädagoge Kay klärt auf: Love-Storms gegen Hass in den Kommentaren
Mehr coole News für euch:
-
Forum-Theater aus Erfurt kämpft spielend gegen Rassismus
-
„Wir machen, was sich gut anfühlt“: Steintor Herrenchor bringt Post-Punk nach Erfurt
-
Wir machen’s uns selbst schön“ – FCK Erfurt sorgt für feministische Clubkultur