Schirme, im Herbst sind es vor allem Schirme: Objekte, die in einem Museum vergessen werden. Doch auch Jacken, Notizbücher, Smartphones, Rucksäcke oder sogar Geldbeutel geraten beim Ausstellungsbesuch mitunter abhanden. Nun greift eine Ausstellung in Weimar das Vergessen auf. Allerdings geht es nicht um vergessene Objekte, sondern um Menschen, die in Vergessenheit geraten sind. Menschen, in deren Pass und Immatrikulationsbescheinigungen „weiblich“ stand; Frauen, die einen Einfluss auf die Geschichte der Kunst, des Designs im 20. Jahrhundert nahmen, doch deren Namen und Verdienste aus dem Fokus geraten sind in einer Welt, die Genie eher männlich besetzt und das Bauhaus zuallererst mit Walter Gropius oder Mies van der Rohe in Verbindung bringt. Die Ausstellung „Vergessene Frauen“ indes widmet sich noch bis Januar 2022 den Leben und Werken der Frauen, die in den 1920er- und 1930er-Jahren am Bauhaus studierten.
Neue Ausstellung im Bauhaus Museum: „Vergessene Frauen“
Insgesamt waren wohl 460 verschiedene Studentinnen am Bauhaus immatrikuliert, doch nur 66 Prozent von ihnen sind noch namentlich bekannt. Insbesondere die NS-Zeit kostete viele von ihnen das Leben. Doch auch Flucht, Exil – oder Mutterschaft – zwangen die Bauhäuslerinnen dazu, ihre Talente aufzugeben, sodass sie als Künstlerinnen in Vergessenheit gerieten.
Frauen nicht nur in Gebrauchskunst vertreten
Die Schau fußt auf einem Forschungsprojekt zu den Bauhaus-Künstlerinnen, das an der Universität Erfurt seit 2013 läuft. Für die Ausstellung werden mehr als 30 Biografien betrachtbar gemacht: Biografische Dokumente und künstlerische Arbeiten zeigen, wie breit Frauen am Bauhaus künstlerisch tätig waren, obwohl die ersten Bauhaus-Direktoren Frauen nachweislich am liebsten nur im Bereich der Gebrauchskunst, also beim Weben oder Töpfern gesehen hätten. Doch die angehenden Künstlerinnen wollten auch Architektinnen, Malerinnen und Bildhauerinnen werden, begeisterten sich für Fotografie, Buchgestaltung oder Reklamekunst.
Gunta Stölzl, die erste weibliche Meisterin am Bauhaus, wurde für ihre Textilkunst bekannt. Sie emigrierte 1931 in die Schweiz. Alma Siedhoff-Buscher schuf das berühmte, multifunktionale Kindermobiliar im Haus am Horn und ein Schiffbauspiel, das man prompt noch heute im Museumsshop kaufen kann. Durch die Geburt ihrer Tochter gezwungen, den Beruf der Produktdesignerin aufzugeben, kam sie 1944 bei einem Bombenangriff in Frankfurt ums Leben. Auch die Vita Friedl Dickers greift die Ausstellung auf. Die hochbegabte Innenarchitektin sah sich als Jüdin immer wieder mit antisemitischen Ressentiments am Bauhaus konfrontiert – der Mythos Walter Gropius muss hier dekonstruiert werden. Schnell distanzierte sie sich von Weimar, wird in Berlin und Wien erfolgreich, bevor sie nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet wird.
Neubewertung anderer Lebenswerke
Stölzl, Siedhoff-Buscher, Dicker – diese drei Protagonistinnen, ihr Werk, ihr Schicksal, ist sicher bereits einigen Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung bekannt. Aber wer waren die Fotografin Hilde Horn, die Malerin und Kunststickerin Hedwig Slutzky, die Tänzerin und Gymnastin Karla Grosch? Was war ihre künstlerische Vision? In der Ausstellung kann man dank des Erfurter Forschungsprojekts viele neue Namen, Lebensläufe und künstlerische Arbeiten von der Radierung, über die Stickerei bis hin zu Skulpturen und Gemälden entdecken. Andere Lebenswerke – wie das Schaffen der zweiten Bauhaus-Meisterin Lilly Reich – werden neu bewertet, da die Forschung mittlerweile davon ausgeht, dass viele berühmte Entwürfe Mies van der Rohes eigentlich seiner damaligen Lebenspartnerin Lilly Reich zuzuschreiben sind.
Weg durchs Bauhaus-Museum mit neuen Augen
Gewiss, mit nur einem Raum ist die Ausstellung sehr klein. Wer sich aber die Zeit nimmt, alle Texte zu lesen, verweilt dort lange und weiß hinterher: Genie ist mitnichten männlich, aber so fortschrittlich, wie es in der Geschichtserzählung gern dargestellt wird, war selbst das Bauhaus nicht. Die Ausstellung ist noch bis zum 3. Januar 2022 zu sehen: Ein spannender Weg könnte es sein, das Bauhaus-Museum, das seine Besucherinnen und Besucher sonst aufgrund seiner Architektur sehr rigide von unten nach oben lenkt, anlässlich der Ausstellung einmal top-down zu besuchen: Zuerst in die Sonderausstellung zu den „Vergessenen Frauen“ in den dritten Stock, dann den Rest mit kritischem Blick erkunden, inwiefern das neue Museum den neuen Erkenntnissen auch Rechnung trägt. Kleiner Spoiler: Im Interieur-Teil beim ikonischen Daybed trifft man zumindest nicht nur auf Mies van der Rohe, sondern auch auf die begnadete Lilly Reich.
Hart Facts:
- Vergessene Bauhaus-Frauen. Bis 4. Januar 2022 im Bauhaus-Museum Weimar (Öffnungszeiten: Mittwoch bis Montag | 9.30 bis 18 Uhr)
- Mehr: klassik-stiftung.de/bauhaus-museum-weimar