Wir treffen uns mit Franziska Bracharz, Erfurts wohl bekannteste Kinderstadtführerin, Anfang März in ihrer Wohnung auf der Krämerbrücke. Auf dem Balkon. Die Sonne scheint. Überall stehen Kartons. Es sieht nach Umzug aus. Nicht ohne Grund: Franzi verlässt nach langem Überlegen Erfurt. Nächste Station: Hiddensee. Mit ihrem Weggang verschwindet nicht nur die weltweit einzige jüdische Kinderstadtführung aus Erfurt, es geht auch ein einzigartiger Mensch, der sich um die Geschichte und die Kultur der Stadt auf eine Weise bemüht hat, wie es kaum ein anderer bisher tat. Ihr Fokus waren und sind immer die Kleinen gewesen.
Nächste Station: Hiddensee – Fraziska Bracharz verlässt Erfurt
Und die Kinder und Familien sind es auch, die ihr in dieser Zeit Halt geben. Immer wieder werden ihr Geschenke an der Krämerbücke vorbeigebracht, mit süßen Worten auf kleinen Briefen. Einen zeigt sie uns kurz vor dem Interview: „Liebe Franzi, wir … wollen dir nur sagen, dass du eine blöde Kuh bist, weil du gehst! (Smiley) Wir wünschen dir eine wundervolle Zeit am Meer – viele Muscheln, Sonnenstrahlen, tolle Nachbarn, viele Katzenbabys und ganz viel inneren Frieden. Wenn nicht jetzt, wann dann? Los geht’s!“
Franzi, wie kam es damals dazu, dass du Kinderstadtführungen erdacht hast?
Ich habe mich einfach gewundert, dass es so etwas in Erfurt nicht gab. Weil ich mir schon immer schlecht Zahlen merken konnte und man als normaler Stadtführer viele Zahlen kennen muss, passte das ganz gut. Als Kinderstadtführer muss man keine Jahreszahlen herunterbeten. Ich fragte damals Dr. Molrok, einen lieben Freund und tollen Künstler, ob er mir zehn Bilder malen kann. Das war der erste Grundstein.
Was waren das für Bilder?
Ein Fisch für den Fischmarkt. Ein Mann am Galgen. Die Stadt in einer Schüssel. Die Krämerbrücke aus Holz und die Krämerbrücke aus Stein. Ganz einfache plakative Bilder zum einfachen Verständnis.
Hast du gleich von Beginn an jüdische Kinderstadtführungen angeboten?
Das werde ich immer wieder gefragt (lacht). Ich war damals in einen Juden verliebt und wollte verstehen, was das Judentum eigentlich ist.
Wirklich?
Ja. Ich war richtig, richtig schlimm verliebt. Und kam in Kontakt mit der Thematik durch meine Arbeit im europäischen Kulturzentrum.
Wann war das?
2003 bin ich damit bereits in Kontakt gekommen. Damals haben wir die jüdisch-israelischen Kulturtage ausgerichtet.
Du hast erst eine Ausbildung als „normale“ Stadtführerin gemacht?
Das war 2005. 2007 habe ich dann die erste jüdische Kinderstadtführung Deutschlands geschrieben. Die alte Synagoge war damals noch im Umbau. Dann war da der Judenschatz und alle haben angefangen, aufgeregt von Erfurts jüdischem Erbe zu erzählen. Ich wollte mehr wissen.
Du bist also ziemlich neugierig?
Ich habe oft Fragen im Kopf und meistens ist es so, dass diese entweder schwammig oder gar nicht beantwortet werden. Das ist für mich Anlass nachzuforschen. Ich fand das Thema so toll, dass die Idee geboren war. Damals gab es noch nicht viele Bücher über Juden in Erfurt. Also habe ich die Leute, die sich auskennen, selbst befragt.
Du hast die Profis angerufen?
Genau. Ines Bese, die alte Chefin der alten Synagoge, Maria Stürzebecher, die sich um das Welterbe kümmert, und viele andere fragte ich: Wie viel ist eigentlich ausgegraben worden? Wie hieß der Jude, der den Schatz versteckte usw. – die ganzen Doktoren waren etwas angenervt und sagten aber gleichzeitig: „Da will es aber jemand genau wissen.“ Dann habe ich die Kinderstadtführung in jüdisch umgemünzt, Bilder zeichnen lassen und so kam das…
Wie läuft so eine Kinderstadtführung eigentlich ab?
An den Stationen wie Schatzfundort oder Mikwe hole ich die Bilder raus und erzähle, was dort passiert ist. So einfach wie möglich. Ich fange bei null an und erkläre natürlich erst, was eigentlich Judentum ist. Man muss nicht über eine Synagoge erzählen, wenn man nicht weiß was ein Jude ist. Man wächst als Jude ja nicht auf dem Baum.
Seit 2005 hast du das jetzt also gemacht?
2005 fing ich an. 2007 kam die jüdische Kinderstadtführung und 2010 die Kinderführung in der Alten Synagoge, Schloss Molsdorf, Anger-museum und so weiter – bis letztes Jahr, bis zur Pandemie. Die Kinderstadtführungen waren meine Hauptbeschäftigung. Irgendwann kam auch noch die Uni und meinte: „Super was du machst, kannst du das nicht unseren Studenten erzählen?“ Daraufhin habe ich ein Programm entwickelt und Seminare über Didaktik gegeben.
Wie genau kam das mit der Uni?
Die haben im Rahmen ihres Seminars für Heimat- und Sachkunde eine Stadtführung mit mir gemacht. Daraus entwickelte sich das Seminar zur Didaktik. In der Folge planten wir dann das jüdische Kinder- und Jugendfestival „Meschugge“, auch mit studentischer Hilfe.
https://www.facebook.com/supermanandhiscat/posts/1876595095816833?__cft__[0]=AZUPSatxzuXzqnqRhSGgPuFSNpnRXlpBGWh8NdLxYnYK6HpR1IARLoVMCFeqHn65Y62dR75AaywiYvFZMPzXz5jCY7mN97C3CReE3xgpQa-X4q–nKHTNmLIu55BS_m6C-EW-xft3Vhpf3ZzaR8nQ41w&__tn__=%2CO%2CP-R
Also hast du daraufhin mehrere Kurse als Dozentin gegeben?
Genau. Bei „Meschugge“ konzipierten wir gemeinsamen Unterricht. Wir planten anderthalbstündige Religionseinheiten. Mit den Schülern stellten wir im Zuge dessen ein großes Kreuz, einen Halbmond und einen Davidstern auf den Domplatz. Für „Meschugge“ habe ich den Thüringer Familienpreis bekommen. So kam es, dass die Leute immer auf mich zukamen.
Wie siehst du die jetzige Entwicklung zum UNESCO-Weltkulturerbe?
Das ist toll, wenn es was wird. Die Entscheidung steht ja noch aus. Da sprechen wir gleich über meine Enttäuschung.
Die da wäre?
Wenn etwas Besonderes da ist, dann muss man darüber berichten. Es reicht nicht, nur einen Stein aus dem Mittelalter zu zeigen. Das betrifft besonders die Vermittlung für Kinder und Jugendliche. Wie sollen sie von diesem besonderen Welterbe erfahren, wenn die Erzählung darüber nicht gesichert wird. Und das findet nicht statt.
Und was heißt „nicht gesichert“?
Es gibt zum Beispiel keine Museumspädagogik in der Alten Synagoge. Ich gehe und mit dem Tag stirbt die Kinderführung im Haus. Es gibt keine Museumspädagog:innen mehr. Es gibt zwar die Stelle, aber sie wird wohl nicht neu besetzt. Falls doch, können sie jedoch nicht meine Kinderführung benutzen. Die habe ich mir mühsam erarbeitet.
Wenn jemand Neues kommt, der muss sich also auch ein neues Konzept überlegen?
Wenn das stattfindet, natürlich. Die Stadt hat aber immer den Zeitpunkt verpasst mir Anerkennung für meine Arbeit zu zeigen. Das heißt, mich angemessen finanziell zu entlohnen für die Arbeit, die ich gemacht habe.
Von netten Worten kann man sich kein Essen kaufen?
Ja, das mit der monetären Anerkennung schleift in Erfurt sehr. In allen Bereichen.
Jetzt kommt Hiddensee. Warum die Insel?
Ich liebe die Insel schon lange, weil sie mich erdet und mich beruhigt, was ich gerade in der Pandemie brauche. Also gehe ich jetzt. Ich weiß, diese Insel heilt mich. Ich arbeite dann im Restaurant „Der kleine Prinz“. Ich gehe dort in die Spülküche. Ich koche, ich bereite Möhren vor, ich mache Ganache, obwohl ich keine Ahnung vom Essen und Trinken habe. Ich ändere komplett mein Berufsbild.
Was ist das für ein Job?
Ich gehe dort in die Spülküche. Ich koche, ich bereite Möhren vor, ich mache Ganache, obwohl ich keine Ahnung vom Essen und Trinken habe. Ich ändere komplett mein Berufsbild.
Machst du dann irgendwann auch Inselführungen für Kinder?
Das wird sich zeigen. Erstmal konzentriere ich mich aufs Restaurant, denn es wird mich retten.
Inwiefern retten?
Es holt mich hier raus aus meiner Lethargie und meiner Nicht-Tätigkeit.
Redest du mit der „Nicht-Tätigkeit“ auch von der Pandemie?
Ja. Sie hat meinen Beruf kaputt gemacht. Ich arbeite auf Nähe, mit Gruppen und im außerschulischen Lernbereich und das findet alles nicht statt. Es gibt meinen Beruf seit einem Jahr nicht mehr.
Wie ist das für dich im „real life“? Bekommst du Unterstützung?
Ich bin auf Kurzarbeit mit einer sehr kleinen Stelle, was es noch schlimmer macht als es sowieso schon war. Also vorher von wenig leben, jetzt lebe ich von sehr, sehr wenig. Menschen haben mich gerettet, indem sie mir Essen geschenkt oder gespendet haben. Das macht aber auch was mit dem Ego. Mein Ego ist am Boden und ich brauche jetzt Sicherheit, Kontinuität und Beschäftigung, damit ich mich erholen kann.
Und die hast du jetzt in Aussicht. Wie fühlst du dich dabei?
Ich fühle mich richtig gut, weil mich da jemand braucht. Da spielt es nicht mal eine Rolle, wozu. Sondern jemand vertraut mir eine Tätigkeit an und sagt mir sehr oft: „Franzi, wir freuen uns auf dich“. Das ist das, was ich gerade brauche. Ich brauche im Moment nicht den künstlerischen Anspruch und die freiheitliche Selbstbestimmung, sondern jemanden, der mir sagt, dass er mich braucht.
Apropos künstlerische Freiheit: Du hast auch Texte geschrieben. Warst du dafür auf Hiddensee?
Ja, ich habe zwei Sachen vermischt. Ich war letzten November und Dezember für die Fährinsel zuständig und habe dort sehr viele Texte geschrieben, obwohl ich in absoluter Einsamkeit im Lockdown auf mich gestellt war.
Was hast du da genau gemacht?
Ich habe ehrenamtlich Schafe gezählt. Die wohnen auf der Insel und fressen die Wiese leer, weil es dort keinen Rasenmäher gibt. Es soll dort nicht verwildern, wegen des Naturschutzes. Der Verein vor Ort kümmert sich um brütende Seevögel, die sehr selten sind. Ich musste dort also jeden Tag nach den Schafen schauen, ob es ihnen gut geht. Das war meine Aufgabe.
Wie bist du dazu gekommen?
Zufall. Ich habe jemanden kennengelernt auf dem Schiff von Schabrode nach Hiddensee. Er hat gemerkt, dass es mir letztes Jahr schlecht ging. Daraufhin hat er mich gefragt, ob er mich rausholen soll und ob ich Schafe zählen kann. Ich dachte: „Willst du mich verarschen?“. Aber er hat es genauso gemeint. Also bin ich nach Hiddensee, habe sehr viele Texte geschrieben und gemerkt, ich brauche gar nicht die Kinderstadtführung, um glücklich zu sein. Ich brauche eine Beschäftigung und die Natur.
Wie nimmst du die Natur in Hiddensee war?
Es nicht nur das Meer. Es sind vor allem die Dinge, die in und auf und um das Meer herum sind. Zum Beispiel der 97 Jahre alte Fischer, der auf den Dünen spazieren geht und mir von seiner Zeit auf dem Fischkutter erzählt, als er Wasserproben nahm. Das ist Manfred, der einen Käsekuchen für mich gebacken hat, oder das ist Sonja, die Kettenraucherin, die immer lacht, wenn ich komme. Oder fliegende Schwäne oder die Gänse, die sich dort sammeln auf den Wiesen. Das ist das, was mich glücklich macht und was ich im Moment brauche.
https://www.facebook.com/franziska.bracharz/posts/4384440298250834?__cft__[0]=AZUzwN3dyZ0Gk92BlycSay9wzDAOIf9vnKJ1pdIHXSS_LEegeUdPZz5NY_cTjaJv7yOjDG79QR0_RIO75NnQHfrWZ0eRhApToqFyI8OXZpavDNb6puXsUcFY02k-1W14IYglJgS7EJu76PJkMcwuv0cQ&__tn__=%2CO%2CP-R
Was hast du auf Hiddensee geschrieben?
Tagebuch.
Können wir irgendwann mit Output rechnen?
Definitiv ja. Es ist auf jeden Fall sehr persönlich, wahrscheinlich sogar das Persönlichste, was ich je formuliert habe. Ich verbinde Erlebnisse, die ich dort hatte, mit meiner Kindheit, und auch mit meinen Ängsten. Dies vermische ich mit Dingen, die dort wichtig sind, also mit Fachbegriffen oder Historie. Ich bringe also die Pandemie, die Insel und meine Geschichte in einen Text. Wir hatten noch nie eine Pandemie, wir hatten noch nie eine so traurige Kinderstadtführerin und wir haben auch nie eine Insel in der Pandemie erlebt aus der Sicht von jemandem, der ein bisschen erzählen möchte. Ich glaube, dass die Leute interessiert, was ich gefühlt habe. Denn ich bekomme sehr oft die Rückmeldung, dass ich nie aufhören soll, über meine Empfindungen und Erinnerungen zu erzählen.
Wann geht’s bei dir los?
Ab Mitte März bin ich auf der Insel. Dann warte ich zwei Wochen und lasse mir von der Küchenchefin und meinen neuen Chefs alles zeigen. Ich habe zwei Wochen Zeit, um mich einzuleben, herumzuschnuppern und das Restaurant kennenzulernen, meine Sachen ans Fensterbrett zu stellen und zu überlegen, wo das Katzenklo hinkommt. Dann fängt mein vorerst neues Leben an.
Du hast also eine Wohnung und alles drumherum?
Ja, die haben sich um alles gekümmert, sonst hätte ich nicht zugesagt. Die Möbel bleiben hier, das heißt, die Tür zurück lasse ich noch ein bisschen auf. Ein Freund kümmert sich um meine Wohnung hier, denn die darf nicht leer stehen. Er kann also mit seiner kleinen Tochter hier essen, spielen und furzen. Ich werde natürlich immer wieder zurückkommen, weil meine Familie hier ist.
Du bleibst Erfurt also ein Stück weit treu?
Natürlich. Ich muss es nur wieder lieben lernen. Jetzt fühle ich es nicht mehr.