In der Geschichte „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll springt die junge Alice unbedarft und voller Neugier hinunter in den Kaninchenbau. Heraus kommt sie in einer skurrilen Welt voller merkwürdiger Gestalten, absurder Sonderlinge und phantastischer Magie – also einem analogen Facebook. Die mehrfach verfilmte Handlung des dadaistischen Kinderbuchs wechselt dabei permanent zwischen realen und bizarr surrealen Ereignissen und Dialogen. Ebenfalls wie bei Facebook.
Webseite ihrer Wahl einen Zugang
Hätte Alice im England des 19. Jahrhundert ein Smartphone und Internetzugang gehabt, müsste sie nicht in den Kaninchenbau springen, um in eine fantastische neue Welt abzutauchen. Sie könnte auf YouTube, Netflix, Spotify, Instagram, Google oder auf jeder weiteren App oder Webseite ihrer Wahl einen Zugang zu neuen Welten finden. Jedoch hätte Alice in diesem Fall nicht nur einen einzigen Kaninchenbau zur Auswahl, sondern zig Millionen. Also in welchen Kaninchenbau springen, ohne in eine Welt abzutauchen, die im Sinne der eigenen Präferenzen absolut nicht fantastisch wäre?
Sinnvolle Ratschläge
Während Alice auf ihrer Reise mehr oder weniger sinnvolle Ratschläge von einem drolligen Hutmacher, einer paffenden Raupe oder einer penetrant grinsenden Katze bekommt, greifen in der digitalen Welt eigens bereitgestellte Wegweiser und Filter, sogenannte Algorithmen.
Algorithmen sind digitale Programme, die entscheiden, was Nutzerinnen im Internet angezeigt bekommen und was nicht. Diese Entscheidungen werden aufgrund des eigenen Nutzungsverhaltens und individueller Präferenzen getroffen. Ein Algorithmus ist also ein digitaler Reiseführer, welcher individuell Ziele vorschlägt, die man scheinbar gerne bereisen möchte, während er die restliche Welt vor einem verborgen hält, bis man aktiv danach fragt. Ziel von Algorithmen ist es, die Nutzerinnen möglichst lange auf der sozialen Plattform zu halten. Denn eine höhere Nutzungs- und Verweildauer bedeutet höhere Werbeeinnahmen. Das war im Marketing schon immer so. Je mehr Aufmerksamkeit etwas bekommt, umso teurer und erfolgreicher ist es.
Verlust der Kontrolle
Wir nutzen also meist unbewusst einen Filter, der aus der großen Masse an Inhalten einen kleinen Ausschnitt auswählt. Das Demokratiezentrum Wien spricht in diesem Zusammenhang über einen teilweisen „Verlust der Kontrolle über konsumierte Inhalte“. Deswegen ist es ein gutes Mittel, bewusst unterschiedliche Informationen zu suchen und dem Algorithmus beizubringen auch verschiedene Themen und Sichtweisen anzuzeigen.
Der Eisverkäufer lernt
Ich mache es einmal an einem Beispiel fest: Es ist Sommer und du genehmigst dir regelmäßig ein bis zwei Kugeln köstliches Eis. Meistens wählst du eine Kugel Schokoladeneis und eine Kugel Meloneneis aus. Manchmal stehst du aber auch vor der Auswahl und grübelst, ob es nicht doch mal eine andere Sorte sein soll, doch im Endeffekt wird es wieder Schokolade und Melone. Der Eisverkäufer lernt, dass du schneller und effektiver agierst, wenn er die Auswahl speziell für dich minimiert und deckt jedes Mal, wenn du den Eisladen betrittst einen Großteil der wahrscheinlich irrelevanten Eissorten ab, um dir die Sorten zu zeigen, die dir scheinbar am besten schmecken. Das ist eine absolute Winwin-Situation, denn ihr kommt beide schnell und effektiv zum Ziel. Du bekommst leckeres Eis und der Eisverkäufer sein Geld.
Auswahl anderer Eissorten ein.
Doch während du vor dem Laden dein Eis genießt, siehst du plötzlich andere Menschen mit total anderen Eissorten in der Waffel. Eissorten, die dir verborgen geblieben sind, in der Annahme, dass sie dich eh nicht interessieren. Der Eisverkäufer hat deine Auswahlmöglichkeiten minimiert und dich so in deiner Entscheidungsfreiheit beschnitten. Stocksauer stürmst du in den Eisladen und forderst die Auswahl anderer Eissorten ein. Nachdem du 10 Minuten gegrübelt hast, was du nehmen möchtest, entscheidest du dich und gehst zufrieden aus dem Laden. In deiner Hand hältst du eine Waffel mit einer Kugel Schokoladeneis und einer Kugel Meloneneis. Diesmal hast du den Algorithmus ausgetrickst.
Autor und Medienpädagoge Kay Albrecht ist Profi auf seinem Gebiet. Als freiberuflicher Pädagoge schult der Erfurter die unterschiedlichsten Zielgruppen medienpädagogisch – und jetzt seid auch ihr dran. Regelmäßig klärt Kay in seiner Kolumne über Medienphänomene auf, um kritische Zugänge zu den alltäglichen Herausforderungen der medial geprägten Lebenswelt zu legen.