Die ist meine Lieblingsstraße“, platzt es ohne Umschweife aus dem Künstler Martin Fink heraus, als ich ihn im Interview auf den ambivalenten Ruf der Magdeburger Allee im Erfurter Norden anspreche. Er meint damit zwar in erster Linie das kulinarische Angebot der längsten Einkaufsstraße Thüringens – man denke da nur an Tutkus Bistro, Grünzeugs, Sushifreunde, Bäckerei Roth und vieles mehr. Doch im Zuge seiner kuratorischen Aufgabe während des Projektes „Ein Viertel Gefahr – Drei Viertel Kunst“, sei ihm bewusst geworden, dass „dieses Pflaster nicht gefährlich, sondern eher prekär ist“.
Erfurter Künstler:innen gegen Gefahren-Stigma der Magdeburger Allee
Der international agierende Allround-Künstler Martin Fink (Video, Fotografie, Malerei, Street Art) setzte zusammen mit vielen Akteuren aus dem Stadtteil Ilversgehofen eine Ausstellung mit digitaler Kunst um, die dem Image „Gefahrenzone“ der Magdeburger Allee eine eigene künstlerische Interpretation entgegensetzte. So flackerten Ende Oktober 2021 diverse Schaufenster in digitalem Gewand und versetzten die Passanten mit zeitgenössischen, durch Computer erzeugte Bewegtbilder in Erstaunen. Auch diese Aktion ist ein Ergebnis des Projektes „Change my Mind“, das in diesem Jahr das Bürgerbeteiligungsformat „Dialog der Vielfalt“ hervorbrachte und Anfang September das „Ilversgehofener Wochenende“ realisierte. Impulsgeber für die kulturelle Stadtteilarbeit ist der am Ilversgehofener Platz ansässige Klanggerüst e.V., der sich gegen die Stigmatisierung des Erfurter Nordens als gefährliches Viertel und für mehr Vielfalt und Inklusion starkmacht.
Magdeburger Allee als kriminogener Ort
Seit die Landespolizeiinspektion Erfurt 2013 die Magdeburger Allee als „kriminogenen Ort“ bekannt gegeben hat, werden verstärkt Radfahrerinnen und Radfahrer, Passanten und all jene kontrolliert, die sich aus Sicht der Beamten auffällig verhalten. Sie stellen Personalien fest, werfen einen Blick in Taschen und Rucksäcke oder sprechen einen Platzverweis aus. Gleiches gilt in Erfurt auch für den WillyBrandt-Platz am Bahnhof und für den Anger. Im Thüringer Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei werden im §14 Orte als gefährlich definiert, an denen Personen Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben. Solche Orte werden von der Polizei anhand von Statistiken als kriminogen eingestuft. „Identitätskontrollen können zukünftige Täter aus der Anonymität herausholen und Straftaten verhindern“, beschreibt Oberkommissar Robert Fischer dieses Instrument, um die Kriminalitätsbelastung zu bekämpfen. Bis vor wenigen Monaten war er selbst noch als Streifenbeamter im Inspektionsdienst Nord auf der Magdeburger Allee unterwegs
Nun ist er zur Kriminalitätsbekämpfung gewechselt und ist unter anderem für statistische Erfassung und Auswertung zuständig. Laut der Kriminalitätsstatistik geschehen in der Magdeburger Allee, auf dem Willy-Brandt-Platz und am Anger etwa ein Viertel aller Straftaten in Erfurt. Hier geht es zumeist um Verbrechen, die auf offener Straße begangen werden, wie Diebstahl, Körperverletzung, Betäubungsmittelkriminalität, Sachbeschädigung und Beleidigungen. Jedes Jahr wird die Einstufung als „gefährlicher Ort“ qualitativ und quantitativ neu überprüft. Ausschlaggebend sind die Anzahl der Straftaten und die Schwere der Tat. „Seit 2015 ist die Kriminalitätsbelastung leicht gesunken“, so der Oberkommissar, „das ist grundsätzlich als Erfolg für diese Maßnahme zu werten.“ Aus Sicht der Politik und der Polizei sei durch dieses Konstrukt außerdem Rechtsklarheit geschaffen. „Die Bürgerinnen und Bürger sind darüber informiert, und die Kolleginnen und Kollegen haben eine Handlungsgrundlage“, bemerkt Robert Fischer.
Förderung des Stadtteils zu lebendigem und lebenswertem Ort
Alles eine Frage der Perspektive, findet Oliver Gerbing, der Quartiersmanager der Stadtteile rund um die Magdeburger Allee. „Die einen sehen den Leerstand, unsanierte Häuser und unsaubere Ecken und die anderen ein vielfältiges Viertel mit Erotik-Geschäft und Bioladen, verschiedenen Kulturen, jungen Studierenden im Stadtbild und einem alternativen Kulturangebot.“ Seit 2017 setzt sich Oliver Gerbing für den Zusammenhalt im Erfurter Norden ein und unterstützt eine Vielzahl an Projekten, die den Wandel und die Vision von einem benachteiligten Stadtteil zu einem lebendigen und lebenswerten Ort für alle fördern. Ihm wäre ein Methodenmix als Maßnahme von Seiten der Politik und Verwaltung das Liebste, um das objektive Sicherheitsempfinden im Stadtteil zu verbessern, oder wie er es sagt, „ein Gleichklang von konservativen Werten und alternativen Ansätzen“. Also statt verstärkten Kontrollen ohne Verdacht und einem sich selbst erfüllenden, negativen Image, eher die Förderung von kulturellen und sozialen Projekten, die nah an den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner ansetzen. Außerdem braucht es mehr investive Mittel, um sogenannte Schmuddelecken und Angsträume aufzuwerten.
Tristesse durchbrechen und Stadtteil beleben
„Ein Viertel Gefahr – Drei Viertel Kunst“ ist genau das: ein Versuch, auf die Potenziale zu schauen und aufzuzeigen, dass Orte wie die Magdeburger Allee in Erfurt überhaupt erst die Möglichkeit bieten, zu ungewöhnlichen und auch spontanen Kunstformaten. Eben weil es Leerstände gibt und weil der vielfältige Kiezcharakter Menschen anzieht, die das Unbeständige dem Vorhersehbaren vorziehen. „Es ging bei dem Projekt darum, das Viertel zu beleben und die äußerliche Tristesse, die die Leute vor der Nase haben, zu durchbrechen und sie aus ihrem Alltag herauszuholen“, erklärt Martin Fink die Motivation für die digitale Schaufenster- und Fassadenausstellung. Für vier Abende wurden so zum Beispiel die Außenwände der Lutherkirche zur Projektionsfläche für ein interaktives Mappingprojekt des Fachbereichs Kunst der Uni Erfurt.
Mithilfe eines digitalen Zeichenbrettes konnten die Passanten die Fassade live gestalten. Am Eingang der Kirche sah man den Erfurter Christoph Blankenburg in seinem vertikalen Video „Chanel Nr. 2“ wie er eine Mauer (oder ist es ein Weg?) entlang läuft. Es wird nicht klar, wo oben und unten ist. Ein paar Straßenzüge weiter wurde das Schaufenster der Schmuckwerkstatt Schmuckdesign dEtAiL zum Ausstellungsort für eine Videoarbeit von Susanna Hanna. Hier geht ein fragiles Haus aus Papier langsam in einem künstlichen See unter, und der Betrachter erwischt sich, wie er über Vergänglichkeit und vermeintliche Sicherheit sinniert. Aus dem Schaufenster der leeren Ladenfläche der Nr. 92 starrten unzählige, zwinkernde Augen auf Vorbeigehende. Silvan Haselbach spitzte hier die Überwachungsrealität unseres digitalen Zeitalters auf ein Äußerstes zu. Das Büro von Oliver Gerbing wurde zum Showroom für die Videokunst von Judith Rautenberg. Die Weimarer Künstlerin und diesjährige Stipendiatin des Thüringer Kunstpreises zeigte einen sich windenden Tänzer in einer weißen Box. Die unangenehmen Gefühle des Isoliertseins, die Angst vor wiederkehrenden, stagnierenden Lebenssituationen, die bis zur Selbstaufgabe reichen können, wurden hier verdeutlicht.
Kriminogen, aber nicht gefährlicher als vorher
Derart düster ist die Perspektive des Viertels in keinem Fall, auch wenn die verstärkte Polizeipräsenz durchaus als Abwärtsspirale gedeutet werden kann. Denn es gibt Menschen, die sich in ihrer Bewegungsfreiheit und in ihrer informationellen Selbstbestimmung eingeschränkt fühlen. Aus polizeilicher Sicht sind diese Befürchtungen „zwar verständlich“, aber Oberkommissar Robert Fischer sieht diesen Eingriff als nötig an. „Menschen, die sich an einem kriminogenen Ort aufhalten und dann einer Identitätskontrolle unterzogen werden, erleben nur einen kurzfristigen Eingriff in die persönliche Freiheit, um auf der anderen Seite auch zu später Stunde sicher von A nach B gehen zu können.“ Und mit Nachdruck ergänzt er: „Es ist zwar ein kriminogener Ort, aber eben nicht gefährlicher als vorher.“
Im Vergleich zur Hamburger Schanze, auf der der Drogenhandel floriert und die Einbruchsdelikte trotz erhöhter Polizeipräsenz weiter zunehmen, sei die Magdeburger Allee sowas wie eine pubertierende Göre, die bei Aldi geklaut hat, aber keine Gefahrenzone. Die Frage ist, wie zeitgemäß so ein Label „Gefahrenzone“ ist, um auf komplexe Stadtentwicklungsprozesse einzuwirken – und sei es nur polizeigesetzliche Sprache? Was hilft der Entwicklung einer Heranwachsenden? (Um bei dem Vergleich zu bleiben.) Wenn sie als kriminell abgestempelt würde oder wenn in Maßnahmen investiert werden würde, die ihr Verhalten ergründen und die ihr Selbstvertrauen aufbauen?
Segregation innerhalb der Stadt nimmt zu
Laut aktuellem Sozialstrukturatlas (Stand 29.10.2020), der die Lebenslage der Erfurter Bevölkerung beschreibt, nimmt die sozialräumliche Segregation innerhalb der Stadt weiterhin zu. Diese räumliche Konzentration von bestimmten benachteiligten, sozialen Gruppen betrifft vor allem die Ortsteile Ilversgehofen und Johannesplatz. Hier zählt die Statistik einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Alleinerziehenden, an Seniorenhaushalten, an Ein-Personen-Haushalten, einen hohen Anteil an Arbeitslosigkeit, an übergewichtigen Kindern und eine geringe gesellschaftliche Teilhabe (Nutzung von zum Beispiel Bibliotheken, Ehrenamt etc.). Diese Erhebungen machen vor allem eines deutlich: dass in den Stadtteilen entlang der Magdeburger Allee in Erfurt die Schutzbedürftigsten unserer Stadtgesellschaft leben. Dieser Schutz sollte nicht (nur) im Sinne eines an der Oberfläche wirkenden Polizeischutzes wirken, sondern im Sinne eines nachhaltigen, inklusiven Sozialraumkonzeptes, das Parallelgesellschaften und Stigmatisierungen verhindert. In Anbetracht der horrenden Mieten in Erfurt wird es weiterhin junge Familien, Studierende und Menschen mit geringerem Einkommen in den Norden ziehen.
Kunst statt Gefahr
„Man wird nicht den Stadtteil retten, aber engagierte Leute einbinden, den Leerstand aufzeigen und beleben“, resümiert der studierte Soziologe Oliver Gerbing die Kunstaktion in der Magdeburger Allee. Kunst nährt sich geradezu an Vernachlässigtem, sie lenkt die Aufmerksamkeit auf besondere Umstände und lebt einen kreativen Umgang mit ambivalenten Realitäten vor. Wohl wissend, dass Veränderung eine gewisse Stetigkeit, ja eine kontinuierliche, städtische Fürsorge braucht. Die in ihrer Konsequenz jedoch nicht zur Verdrängung der jetzigen Anwohnerinnen und Anwohner führen darf (weil durch Sanierungen und Neubauten der Mietspiegel ansteigt), sondern dass die Aufwertung der Viertel rund um die Magdeburger Allee bedarfsgerecht und im Dialog passieren muss. Konkrete Vorstellungen dazu gibt es bereits, wie der „Dialog der Vielfalt“ des Klanggerüst e.V. in diesem Jahr noch mal aktuell zusammentrug. Ein zentrales Stadtteilzentrum – um Diversität und Inklusion mehr Raum zu geben – und ein überarbeitetes, sicheres Verkehrskonzept für Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer wären Beispiele dafür.
Wenn sich der Quartiersmanager für seine Arbeit etwas wünschen dürfte, dann wäre es „ein Team aus interdisziplinären, hauptamtlich wirkenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Expertise aus den Bereichen Stadtplanung, soziale Arbeit und Kulturmanagement mitbringen“. Im Idealfall erhalten die sozialen und kulturellen Träger und das Quartiersmanagement also einen ausreichend finanzierten Arbeitsauftrag, um Projekte, runde Tische und Unterstützungsangebote zu realisieren, die den Wandel des Stadtteils nachhaltig begleiten.
Freiraum und Möglichkeit
Die Initiatoren von „Ein Viertel Gefahr – Drei Viertel Kunst“ verdeutlichen mit ihrem Projekt das Potenzial, dass sich das einstige Arbeiterviertel mehr und mehr zu einem kulturell attraktiven und infrastrukturell interessanten Lebens- und Aufenthaltsort entwickeln kann. Nicht zuletzt dank der engagierten Arbeit einzelner Anwohnerinnen und Anwohner, Gewerbetreibender und Akteure, die sich für die Belebung und Neuausrichtung des Stadtteils einsetzen. Sie legen ihren Fokus auf das, was schon da ist, sie fühlen sich hier wohl, können kreativ sein. Auch weil es noch Freiräume und Möglichkeitsräume gibt. Und weil es auf der 2500 Meter langen Magdeburger Allee menschelt, menschelt es in alle Richtungen: Kleinkriminalität ist ein unangenehmer Teil davon, der eher als Symptom für Vernachlässigung zu deuten ist. Eine erhöhte Polizeipräsenz kann immer nur eine kurzfristige Maßnahme sein, um das subjektive Sicherheitsempfinden einzelner zu gewährleisten.
Hart Facts:
- Hier geht’s zur Website der Magdeburger Allee.
- Hier findet ihr den Sozialstrukturatlas für Erfurt (von 2020).
- Zur Website des Klanggerüst e.V. geht’s hier lang.
- Mehr über Martin Fink.