Mit ihrem neuen Album „Wenn die Kälte kommt“ drehten Santiano die Heizung in Erfurt runter und die Stimmung voll auf. Schon seit Jahren begeistern die fünf Männer ihre Fans mit bewegenden Liedern, die in vielen Genres ihr Zuhause finden. Ob Rock, Ballade oder Folk – die Band bringt alles mit und macht ihr eigenes Ding draus. Vor dem Konzert in Erfurt, das nun wegen einer Coronaerkrankung in dem September verschoben werden musste, hat das t.akt-Team die Gelegenheit bekommen, mit Björn Both zu sprechen. Er singt und spielt Gitarre sowie Bass bei Santiano.
In Erfurt wird nicht viel Seemannsgarn gesponnen: Wir haben zwar die Gera, aber mehr als ein paar Enten schwimmen meistens nicht vorbei. Habt ihr trotzdem viele Fans hier?
Soweit ich mich entsinnen kann, ist Erfurt schon immer sehr gut besucht gewesen. Die Menschen hier haben zwar nicht unbedingt viel mit dem Meer zu tun, aber der Exotengrad ist dann einfach höher. Allerdings sind so Dinge wie das Meer, die See … das ist nichts, zu dem man einen direkten Draht haben muss, um ein Bild davon im Kopf zu haben. Wir bestehen letztendlich alle zu 80 Prozent aus Wasser und das teilen wir mit jedem Menschen auf dieser Welt.
Also können wir trotzdem bei euren Seemannsliedern mitschunkeln, auch wenn man nicht bei der Marine war?
Naja, wir machen keine Seemannslieder. Wir machen Musik und singen über die See, das ist ein Unterschied. So richtige Shantys haben wir nur wenige im Repertoire.
Auf dem neuen Album gibt es „Wellerman“ zu hören. Das ist aber ein Shanty?
Ja, das ist ein Walfängerlied – sogar ein richtig blutiges. Wir taten uns extra mit Sea Shepard zusammen, um Geld zu sammeln und die Energie wieder etwas zu säubern. Aber ja, also so wirklich Seemanslieder singen wir nicht. Das wollen wir auch gar nicht.
Ihr wollt einfach das Fernweh zur See anstacheln?
Genau. Und das mit Attitüde. Deswegen machen wir rockige Irish-Folk-Musik mit einem balladeskem Touch … und sehr symphonisch. Also gar nicht unbedingt so wie bei einem Shanty-Chor.
Auf dem neuen Album geht es aber gar nicht mal so wirklich um das Meer, sondern eher um Kälte und Eis.
Genau. Wir haben zurückgeschaut auf eine Zeit, wo man noch nicht mit einem modernen Polarschiff und allen Annehmlichkeiten wie TV, Internet und Handy aufbrechen konnte, sondern noch mit stahlgepanzerten Segel- oder Dampfschiffen losgezogen ist und sich auf eine Geschichte eingelassen hat, in dem Wissen, dass es sehr wahrscheinlich ist, nicht mehr wiederzukommen. Dann ist es ein richtiger Abschied. „Was du liebst lass los“ ist eines der Lieder unseres neuen Albums. Damit fängt das Elend an. Bei einer solchen Reise kommt man nicht mal eben nach zwei, drei Monaten wieder, sondern erst nach zwei oder drei Jahren. Was dann passiert, ist das, womit sich Santiano gerne beschäftigt. Das sind archaische, menschliche Dinge, die sich bei solchen Expeditionen abspielen. Irgendwo ist es auch ein Spiegel der Zeit, die wir selbst alle gemeinsam erlebt haben oder gerade erleben. Vor allem am Tiefpunkt „Wer kann segeln ohne Wind“. Da haben wir es ausnahmsweise gelassen, in der vierten Strophe ein Happy End zu bringen, sondern gesagt „Nimm deine Hand vom Ruder“. Das ist ein Einverstanden-Sein mit der Tatsache, dass jetzt einfach nichts mehr geht. Dann jedoch kommt wieder Hoffnung auf mit „Steh auf“. Quasi ein Haltegriff. Alles Themen, die extrem menschlich sind, und die wir alle im Kleinen und im Großen erleben. Manchmal schauen wir auf unser Leben zurück und erkennen Punkte darin, wo wir diesen Haltegriff gebraucht haben. Wo wir dachten „Jetzt geht’s nicht mehr weiter“. Aber was dann noch alles kam: Es ist unglaublich. Wir üben das ja. Gerade als junge Menschen haben wir das so oft, dass wir die großen Tragödien üben. Wenn wir mit vierzehn großen Liebeskummer haben und denken, niemals wird uns jemand wieder lieben. Diese Gefühle sind natürlich echt, auch schon in jungen Jahren. Aber im Grunde genommen, wenn ich jetzt auf so etwas zurückblicke, dann lächle ich und weiß: ah ja, da habe ich geübt. Da habe ich geübt für die richtig dicken Dinge, die noch kommen werden.
Das Album kann man also als Metapher für schwierige Situationen sehen.
Ja, es ist nicht nur ein Konzeptalbum, sondern wir benutzten diese Reise mit all ihren Strapazen und Entbehrungen, aber auch mit dem Hoffen auf das Ankommen, als Vergleich. Und dann kommt die Frage: Wofür hat man das eigentlich alles gemacht? Vielleicht gab es ja Opfer auf unserem Lebensweg. Wer in den Titelsong „Wenn die Kälte kommt“ genau rein hört, der merkt schnell, dass es bei dem Album um mehr geht, als nur ein bisschen im Schnee frieren.
Auch in euren bisherigen Alben geht es nicht nur um das Meer und die See, sondern auch um Themen wie Freundschaft und Beieinanderstehen. Sind euch diese Themen persönlich wichtig?
Auf jeden Fall. Ich finde auch, dass genau das auch etwas ist, woran es manchmal mangelt, wenn wir uns so umschauen. Wenn wir alle als Mannschaft auf einem Boot wären, ob wir dann noch genügend Essen und Trinken hätten? Ob wir heil durch einen Sturm kommen würden? Ob wir überhaupt jemals heil irgendwo ankommen würden? … Ich bin mir nicht sicher.
Habt ihr, abgesehen vom neuen Thema, auch musikalisch etwas verändert oder experimentiert im neuen Album?
Wir haben nicht wirklich viel experimentiert. Jeder schreibt so ein bisschen und dann nageln wir Ideen zusammen. Das landet alles irgendwann im Studio, und dann schauen wir, wie daraus ein Album gestrickt werden kann. Wichtig ist, zu sehen, was dann noch fehlt. Viele Künstler schreiben dutzende Songs und müssen sich dann entscheiden, welche sie davon zum Album machen. Wir schreiben so fünfzehn oder sechzehn und packen dreizehn auf ein Album. Da wird nicht viel in den Wind geblasen. Wir sind da sehr zielgerichtet. Wir verfolgen eine Idee und gucken dann ganz klar, wie wollen wir die umsetzen? Wie wollen wir klingen? Und bei diesem Album wollten wir wie Eis klingen, wie Kälte, wie eine Eisscholle, die zerbricht. Die ganze Atmosphäre sollte sich danach richten. Das Artwork und die Sprecher der Saga, die die jeweiligen Intros und Übergänge erzählen, unterstreichen das Ganze.
War das Wellerman-Cover von Anfang an geplant? Oder ist es so reingerutscht, weil das Lied und Nathan Evans auf einmal durch TikTok so berühmt geworden sind?
Dieser Song war nie und nimmer für dieses Album geplant. Wir haben quasi aus lauter Langweile – das Album hatte sich etwas verschoben – eine Kooperation mit Nathan gemacht, als der dann plötzlich mit diesem Ding durch die Gegend schoss. Wir erwarteten nicht viel. Aber das Ding wurde relativ erfolgreich. Auch unsere Version ist gut gegangen. Und da es den Song nicht auf Platte gab, haben wir uns schon irgendwie gezwungen gesehen, das Lied als Bonus aufzunehmen. Sonst gäbe es keine Plattenversion und dafür ist das Ding zu geil.
https://www.facebook.com/semmelconcerts/photos/a.10158460174450910/10158864564990910/
Ihr sprecht ein sehr großes Publikum: sowohl auf dem Wacken-Festival als auch bei Schlagershows seid ihr vertreten.
Wir sind in beiden Lagern unterwegs und fahren gerne zweigleisig. Wer unsere Platten hört, der weiß, dass wir auch auf Schlagershows häufig die Exoten sind. Wir haben mit „Wenn die Kälte kommt“ oder „Könnt ihr mich hören“ schon teilweise echte Brecher losgelassen und kriegen damit die Stimmung schnell in den Keller. Beispielsweise bei einer Sylvester-Show, wo alle jubeln, Luftschlangen schwingen und richtig aufdrehen … wenn wir kommen und die Kälte einzieht, ändert sich die Stimmung rasch. Das macht aber richtig Spaß. Also wir genießen das auch. Wir sind schon eine Band, die heraussticht, und es ist wunderbar neue Leute kennenzulernen, die fantastische Musiker und Musikerinnen sind, mit denen man auch abends an der Hotelbar etwas trinken und sich seine Geschichten erzählen kann. Und deswegen ist alles unser Terrain. Wir sind bei Schlagershows genauso zu Hause wie in der Rockmusik.
Hart Facts:
-
Termin : | Messe | Gothaer Straße 34 | Erfurt |29. September 2022 | Beginn: 20:00 |
Mehr coole News für euch:
-
Der Friedenstein feiert heute den Internationalen Museumstag 2022
-
„Wir lassen uns den Funk nicht lumpen“ – Sharktank in Erfurt
-
Space Activate! – Bauhaus-Uni Weimar geht im Kunsthaus Erfurt neue Wege